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Das Mensch-Tier-Verhältnis in der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers

von Carsten Haker

Einleitung

Der kritische Blick Theodor W. Adornos (1903-1969) und Max Horkheimers (1895-1973) auf das Verhältnis der menschlichen Gesellschaft zum Tier ist ein besonderer Ausdruck ihrer allgemeineren Analyse der bürgerlichen Gesellschaft und deren Vernunftprinzips.

Ihre Theorie hielt in ihren Anfangszeiten, also in den zwanziger und dreißiger Jahren, noch halbwegs ungebrochen an konsequent aufklärerisch-abendländischer Tradition fest, in Form einer Kritik am auf partikulare Selbsterhaltung fixierten, von sozio-ökonomischen Bedingungen sich losgelöst dünkenden Vernunftbegriff der idealistisch-bürgerlichen Aufklärung. Diesen ersetzten sie durch einen (auf Marx zurückgehenden) materialistisch, ökonomieanalytisch gewendeten, der auf die vernünftige Organisation des gesellschaftlichen Ganzen und seiner Produktionsweise im Sinne einer "Assoziation freier Menschen" abzielt. Der materialistische Ansatz überwindet die selbst der progressiven idealistischen Philosophie innewohnende Tendenz, von den ökonomisch-gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen zu abstrahieren, auf diese Weise nicht zur Basis des gesellschaftlichen Unrechts vorzudringen und somit zu dessen Aufrechterhaltung beizutragen.

Programmatisch führt Horkheimer diesen Ansatz aus in seinem Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie von 1937. "Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft, so wenden sie ihre Kräfte an und bestätigen ihr Wesen. Zugleich jedoch ist dieser Prozeß mitsamt seinen Resultaten ihnen selbst entfremdet, erscheint ihnen mit all seiner Verschwendung von Arbeitskraft und Menschenleben, mit seinen Kriegszuständen und dem ganzen sinnlosen Elend als unabänderliche Naturgewalt, als übermenschliches Schicksal." (TuK 220f.) Diese Naturgewalt zu analysieren, um sie abwenden zu können, macht die kritische Theorie sich zur Aufgabe. Horkheimer beschreibt sie als kritisches Verhalten, "das die Gesellschaft selbst zu seinem Gegenstand hat", die "Erkenntnis des historischen Verlaufs des Ganzen als treibendes Motiv" sich zur Aufgabe mache und somit auf die Kritik der gesellschaftlichen Totalität in ihrer geschichtlichen Entwicklung abzielt. "Es ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft." (TuK 223) Sie wendet sich sowohl gegen bürgerliches Denken als auch gegen völkische Ideologie, die sie als miteinander vermittelte Gegensätze begreift. Das "bürgerliche Denken" sei das eines sich autonom dünkenden Subjekts, das das Ego zum obersten Prinzip macht. Die sich als Gegensatz dazu verstehende "völkische Ideologie" sei eine Gesinnung, die sich "für den unproblematischen Ausdruck einer schon bestehenden Gemeinschaft hält. [...] Das rhetorische "Wir" [der bürgerlichen Rede] wird hier im Ernst gebraucht. Das Reden glaubt, das Organ der Allgemeinheit zu sein." (TuK 227) Die kritische Theorie sei beiden Formen entgegengesetzt. "Es ist weder die Funktion eines isolierten Individuums noch die der Allgemeinheit von Individuen. Es hat vielmehr bewußt ein bestimmtes Individuum in seinen wirklichen Beziehungen mit anderen Individuen und Gruppen, in seiner Auseinandersetzung mit einer bestimmten Klasse und schließlich in der so vermittelten Verflechtung mit dem gesellschaftlichen Ganzen und der Natur zum Subjekt." (ebd.) Dabei habe sie keine andere spezifische Instanz als "das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts." (TuK 259)

Die weltgeschichtliche Katastrophe von Auschwitz zwingt Adorno und Horkheimer zu einer grundlegenden Revision ihrer Theorie. Das kollektiv verhängte Todesurteil der Nazis über die Juden und die industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeuteten einen Bruch in der Geschichte, der die der Zivilisation innewohnende Tendenz zur Barbarei aufgewiesen hat, eine Barbarei, die alles vorher dagewesene in den Schatten stellt und daher die von Zivilisation und aufgeklärter Vernunft in Anspruch genommene Entbarbarisierung unwiderruflich widerlegt hat. Der für ihre Theorie entscheidende Wechsel deutet sich in Horkheimers Aufsatz Vernunft und Selbsterhaltung von 1942 an. Dort wird die historische Entwicklung zum Anlaß einer Reflexion des aufklärerischen Vernunftbegriffes genommen. "Die Stammesbegriffe der westlichen Zivilisation sind dabei, zu zerfallen. Die neue Generation setzt nicht mehr viel Vertrauen in sie. Vom Faschismus wird sie im Verdacht bestärkt. Die Frage ist an der Zeit, wieweit die Begriffe noch haltbar sind. Zentral ist der Begriff der Vernunft." (VuS 271) Deren "Bestimmungen, in eine zusammengefaßt, sind die optimale Anpassung der Mittel an den Zweck, das Denken als arbeitssparende Funktion. Sie ist ein Instrument, hat den Vorteil im Auge, Kälte und Nüchternheit als Tugenden." (VuS 274) Vernunft stehe in der Tradition, in der "Selbsterhaltung alles unter ihren Willen zwingt, was sich nicht wehren kann." (VuS 291) Horkheimer kritisiert hier nicht die Vernunft als Mittel zum Verlassen des Naturzustandes, sondern als Mittel zur Herrschaft über Natur. "In den Erklärungen der idealistischen Philosophen, daß die Vernunft den Menschen vom Tier unterscheide, in denen das Tier erniedrigt wird [...], ist die Wahrheit enthalten, daß mit der Vernunft der Mensch aus der Befangenheit der Natur erwacht; nicht freilich, wie sie meinen, um diese zu beherrschen, sondern um sie zu begreifen." (VuS 299f.)

Diese Kritik wird in Adornos und Horkheimers gemeinsam in den Jahren 1942-1944 verfaßten Dialektik der Aufklärung mittels einer kritischen Selbstreflexion der Vernunft anhand der Geschichte des herrschaftlichen Denkens seit seinen Anfängen entfaltet zu einer geschichtlichen "Phänomenologie des Widergeistes" (ND 349). Unter Beibehaltung der materialistischen ökonomiekritik wird die Theorie erweitert um die eingehende Reflexion des Verhältnisses von Vernunft und Natur. Als Erkenntnisziel formulieren die Autoren im Vorwort die Frage, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt." Ausgangspunkt ist die Beobachtung einer "rastlose[n] Selbstzerstörung der Aufklärung". "Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert. Dabei treiben diese die Gewalt der Gesellschaft über die Natur auf nie geahnte Höhe." (DA 4)

Die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt gipfele dabei gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen. Diese Tendenz ebne alle Unterschiede des bürgerlichen Denkens ein.

Das Mensch-Tier-Verhältnis ist in erster Linie in der Dialektik der Aufklärung Thema, ansonsten eher verstreut in einigen Notizen und regelmäßig wiederkehrend am Rande von Aufsätzen Horkheimers (Abschnitt 1). Es gibt einen Schwerpunkt ihrer Theorie, der für diese Thematik eine große Rolle spielt, und das ist die zivilisationsgeschichtliche Dialektik von Vernunft und Natur in Form einer "naturverfallenen Naturbeherrschung" und die aus dieser Dialektik hervorgehende "pathische Projektion", die sich vor allem gegen Tiere und Tieren als ähnlich geltende Menschen richtet. Dieser Aspekt wird im Abschnitt 2 behandelt. Abschnitt 3 führt Beschreibungen Horkheimers zu grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier an; diese sind relevant für die in Abschnitt 4 angedeutete negative Moralphilosophie Adornos und Horkheimers.

1. Geschichtlich-gesellschaftliche Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses

In ihrer negativen "philosophische[n] Konstruktion der Weltgeschichte" (DA 235) als eine unter dem Bann der Herrschaft und des Grauens, reflektieren Adorno und Horkheimer das geschichtliche Verhältnis des Menschen zum Tier hinsichtlich des Selbstbildes des vernünftigen Menschen und seiner Auswirkungen auf die Tiere: "Die Idee des Menschen in der europäischen Gesellschaft drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und in die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. […] Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft " (DA 262): "In Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden auf Grund der ersten Planung überwältigten, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren." (ebd.) Lückenlos geworden ist die Ausbeutung der Tiere vor allem durch die Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft und der mit ihr verbundenen "Entfesselung der Produktivkräfte", d.h. der Industrialisierung und Technologieentwicklung, und der im Dienst jener stehenden Wissenschaft. Sie drückt sich aus in Tierversuchen, moderner Schlachtung, Jagd, Zoos und Zirkussen und der Ausrottung von Wildtieren:

Vernünftige Wissenschaftler zwängen in ihren "scheußlichen Laboratorien" den "verstümmelten Tierleibern" ihre Formeln und Resultate ab. Dem Tier, aus dem sie "den blutigen Schluß" ziehen, bliebe nur das "unvernünftige Entsetzen", der "Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist" (ebd.). Die Beobachtung von Tierversuchen und Transporten von Tieren zum Schlachthof veranlaßte Horkheimer zu Reflexionen, in denen er die Situation der Tiere als "Tierhölle der menschlichen Gesellschaft" (NDä 287f.) beschrieb. In den "Verliesen des Gesellschaftsbaus" (MHGS 7, 104ff.) richte die Gesellschaft das "Leiden der Kreatur" an zum Zwecke der "fieberhafte[n] Herstellung von zweifelhaften Luxusgütern" mittels "unzweifelhaften Zerstörungsmitteln": eine "Genialität der Produktion, die keine Zeit zum Denken läßt" und für deren obersten Zweck, die "Steigerung der Lebenserwartung und des Lebensstandards, der Güter höchste in der automatisierten Welt" keine Opferung "dessen, was draußen ist", zu groß ist. Auf diese Weise ziehe die Gesellschaft "Stumpfheit und Borniertheit, Leichtgläubigkeit und Anpassungsbereitschaft ans jeweils Mächtige und Zeitgemäße als herrschende Gemütsverfassung groß".

Als "unbeschreiblich töricht und grausam" gegenüber Tieren erwiesen sich die Menschen auch in Zoos und Zirkussen; der Mensch gehöre zur "einzigen Rasse, die Exemplare anderer Rassen gefangenhalten oder sonst auf eine Art quälen, bloß um sich selbst dabei groß vorzukommen." (NDä 72f.) Horkheimer beschreibt das Schicksal von Elefanten im Zirkus: "Mit Peitsche und Eisenhaken wird das bedächtige Tier hereingeführt. Es hebt auf Kommando den rechten, linken Fuß, den Rüssel, dreht sich im Kreise, legt sich mit Mühe nieder, und schließlich steht es, unter Peitschengeknall, auf zwei Beinen, die den schweren Leib kaum halten können. Das ist seit vielen hundert Jahren, was der Elefant zu tun hat, um den Menschen zu gefallen." (NDä 54f.) Gegenüber der "Dummheit der Zuschauer" nehme dabei die Gestalt des Elefanten "wie das Abbild der ewigen Weisheit sich aus, die unter Narren um des lieben Friedens willen ein paar närrische Gesten macht".

Wilde, in den Restbeständen freier Natur lebende Tiere wie die Giraffe oder der Elefant würden als bloße "Seltsamkeiten" angesehen, "an denen sich kaum mehr ein gewitzigter Schuljunge verlustiert. Sie bilden […] ein Verkehrshindernis" für die sich ausbreitende Zivilisation und werden daher "ganz abgeschafft" (DA 268). Andere Tiere bekommen die patriarchale Naturliebe zu spüren, die sich ausdrückt in der Regression auf die "archaische Ungeschiedenheit von Liebe und überwältigung" (DA 202), im "Beschlagnahmen" des Tierkörpers. In der Jagd verbänden sich "in guter reaktionärer Tradition […] die lutherisch-deutsche Lust am fröhlichen Morden mit der gentilen Fairneß des Herrenjägers" (DA 270). Der Jäger oder Antreiber rücke als "verdrängender Sodomit" (DA 202) den Tieren auf den Leib, denn deren "Zeichen der Ohnmacht, die hastigen unkoordinierten Bewegungen, Angst der Kreatur fordern die Mordgier heraus." (DA 120).

Angesichts der Tatsache, daß "seit ihrem Aufstieg die species Mensch den anderen sich […] als die entwicklungsgeschichtlich höchste und daher vollkommenste Vernichtung" (DA 199) zeigt, für deren "blutigen Zweck der Herrschaft [...] die Kreatur nur Material" (DA 270) sei, hegen die Autoren keine großen Hoffnungen für die zukünftige Entwicklung: Die Vernichtungsfähigkeit des Menschen verspreche "so groß zu werden, daß – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab, und wenn die Erde dann noch jung genug ist, muß […] auf einer viel tieferen Stufe die ganze chose noch einmal anfangen." (DA 236)

2. Zur geschichtlichen Dialektik von Vernunft und Natur

2.1 Zur Entstehungsgeschichte des Denkens

Die Beschreibungen des Mensch-Tier-Verhältnisses in der kritischen Theorie sind ein Teil einer umfassenden geschichtsphilosophischen Analyse der Dialektik von Vernunft und Natur und der damit zusammenhängenden Urgeschichte der bürgerlichen Subjektivität. Diese Urgeschichte spielt für das herrschende Mensch-Tier-Verhältnis eine wesentliche Rolle. Zunächst erläutert werden soll die kritisch-theoretische Konstruktion der Dialektik von Vernunft und Natur; in der Negativen Dialektik findet sich hierzu eine stark komprimierte Zusammenfassung:

"Dass Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte. Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren Anderem. Dieser ephemer (für nur kurze Zeit, flüchtig) entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft übernatur." (ND 285)

Will heißen: Denken war seit seinen Anfängen ein Instrument des Menschen, die eigene Existenz der umgebenden Natur abzugewinnen, durch Objektivierung von Natur sowie durch geschickte Anpassung an widrige natürliche Verhältnisse. Der Zweck der Selbsterhaltung ist das naturhafte Element des Denkens, denn das selbsterhaltende Subjekt ist nichts anderes als "Lebendiges, das gegen Lebendiges sich behaupten möchte" (DA 61) Vernunft ist somit mit Natur identisch und nicht-identisch: "Als ein Teil der Natur ist die Vernunft zugleich der Natur entgegengesetzt - der Konkurrent und Feind allen Lebens, das nicht ihr eigenes ist." (KiV 121f.) Insofern Vernunft lediglich ein Organ der Naturbeherrschung ist, ist es daher in Natur befangen. So setzt "Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, [...] die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort." (ND 348) Solange Vernunft nicht eben diese ihre Natürlichkeit kritisch reflektiert und Herrschaft zurücknimmt, setzt sich gesellschaftliche "Naturgeschichte" fort. Horkheimer und Adorno verwenden auch den Begriff der "Vorgeschichte" für alle menschliche Geschichte, die einer Verwirklichung der klassenlosen Weltgesellschaft vorangeht, sowie den der "zweiten Natur" für eine nach den Zwecken der naturbeherrschenden Selbsterhaltung blind-naturwüchsig funktionierenden Gesellschaft.

Durch Denken als Instrument zur Selbsterhaltung versuchte der Mensch seit je, sich gegen die Willkür der Natur zu behaupten und die Angst vor ihr zu überwinden. In magischen Stufen der Entwicklung geschah dies durch Mimesis, durch Nachahmung der Naturmächte, um sie zu beeinflussen: Die verzerrten Züge der Maske des Magiers spiegeln den Schrecken der Natur, durch rituelle Tänze versucht er, sie und seine Angst zu überwinden. Mimesis als Trieb zur Nachahmung, der im Kind den entscheidenden Antrieb zum Lernen ausmacht, ist zugleich naturhafter Impuls der Nachahmung/Identifikation mit Natur wie der Beginn der Aufklärung als Loslösung von der bedrohlichen Natur bzw. der überwindung ihrer Bedrohung, denn Zweck der Aufklärung "im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens" sei Horkheimer und Adorno zufolge seit je das Ziel, "von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen." (DA 9) Im magischen Stadium der Anrufung und Nachahmung von Naturmächten, sind Subjekt und Objekt, Geist und Natur, noch nicht getrennt, doch die Trennung ist bereits angelegt. "Wenn der Baum nicht mehr bloß als Baum sondern als Zeugnis für ein anderes, als Sitz des Mana (magische Naturmacht, Allmacht) angesprochen wird, drückt die Sprache den Widerspruch aus, daß nämlich etwas es selber und zugleich etwas anderes als es selber sei, identisch und nichtidentisch." (DA 21) Die Entstehung des begrifflichen Denkens markiert den übergang von Magie zum Mythos. Der Mythos als Erzählung stellt Natur(mächte) begrifflich dar. Der Begriff ist nicht Natur, er bedeutet sie bzw. ihre Macht und soll sie erfassen, deuten. "Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen" und damit bereits "darstellen, festhalten, erklären" (DA 14). Geist und Natur beginnen auseinanderzutreten, das Subjekt beginnt zu erwachen.

Fortschreitendes Denken führt zu stetig rationalerer Selbstbehauptung und Erforschung der Natur zum Zwecke ihrer Nutzbarmachung und Beeinflussung. In seiner weiteren Entwicklung hat sich der menschliche Geist zum Zwecke der Emanzipation von Naturzwängen immer radikaler der Natur entgegengesetzt, diese immer mehr auf ein Herrschaftsobjekt reduziert, "entzaubert", also entmythologisiert, d.h. die ihr angeblich innewohnende eigenständige Bedeutung als Aberglauben entlarvt, bis diese nichts mehr ist als bloßes Material, das zu beherrschen ist.

2.2 Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen

Die Naturmächte, denen sich der Magier angleicht, bestehen noch aus Geistern und Dämonen, im Zuge fortschreitenden Denkens und Loslösung von Natur lösen auch diese imaginierten Machtwesen sich aus ihrer Naturgestalt: sie werden zu Göttern, bekommen anthropomorphe Gestalt und stehen für die Beherrschung von Natur und Naturmächten, nicht mehr für diese selbst. "Gott als Geist tritt der Natur als das andere Prinzip entgegen." (DA 186); Diese änderung in der mythischen Anschauung spiegelt die fortschreitende Distanzierung des Menschen von der Natur wider. "Die Menschen distanzieren denkend sich von Natur, um sie so vor sich hinzustellen, wie sie zur beherrschen ist." (DA 46); "Das Sein zerfällt von nun an in den Logos (göttliche Vernunft) [...] und in die Masse aller Dinge und Kreaturen draußen." (DA 14)

"Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan" (ebd.): Das durch fortschreitende Naturbeherrschung hervorgerufene "Erwachen des Subjekts" bedingt die Verabsolutierung von Herrschaft des Geistes über Natur, deren Erhebung zum Prinzip, es wird "erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen." (DA 15) Gegenüber der Einheit solcher herrschaftlichen Vernunft sinke der Scheidung von Gott und Mensch zur Irrelevanz herab. "Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando." (ebd.) Konsequente Aufklärung schafft daher schließlich den Glauben an Götter ganz ab und an dessen Stelle inthronisiert das gottesebenbildliche bürgerliche Subjekt sich selbst.

2.3 Zur Herausbildung der bürgerlich-patriarchalen Subjektivität

Bürgerliche Subjektivierung als Triebunterdrückung und Abgrenzung vom Tier

Die Spaltung von Herrschaftssubjekt Geist und Herrschaftsobjekt äußerer, d.h. nicht-menschlicher / körperlicher Natur, spiegelt sich wider im Herrschaftsverhältnis Geist und innerer Natur, d.h. im Verhältnis zwischen Ich und Es, zwischen Vernunft und Triebstruktur. Die Dialektik von Vernunft und Natur greift über auf das naturbeherrschende Subjekt. "Wie der Geist nichts als ein Moment der Natur ist, solange er in seinem Gegensatz zur Natur beharrt, so ist das Individuum nichts als ein biologisches Exemplar, solange es bloß die Verkörperung eines Ichs ist, das durch die Koordinierung seiner Funktionen im Dienst der Selbsterhaltung bestimmt wird." (KiV 131)

Die "Spaltung des Lebens in den Geist und seinen Gegenstand" bedingt, daß das Subjekt seiner innere Natur unterdrückt und verdrängt. "Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen." (KiV 94) Es muß mimetische Impulse unterdrücken, denn es darf sich in der "Identifizierung mit anderem nicht [mehr] verlieren" (DA 16). Es muß auf spontane Lust verzichten, muß entsagen können, muß arbeiten und leisten um der versprochenen Erfüllung von Glück in der Zukunft willen. "Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt." (DA 40) Die "patriarchal zweckvolle Härte" (DA 83) wird zum Ziel der Erziehung und zur obersten Tugend die gesamte Zivilisation hindurch. Im gesellschaftlichen Umgang mit Tieren offenbart sich der Charakter dieser Tugend besonders deutlich. "In der Blindheit gegen das Dasein der Tiere hat sich in der bisherigen europäischen Gesellschaft die gehemmte Entwicklung der Intelligenz und Instinkte gezeigt. Ihr Los in unserer Zivilisation spiegelt die ganze Kälte und Borniertheit des vorherrschenden menschlichen Typus wider." (EF 119)

Die Erinnerung an Natur ist mit den höchsten Tabus belegt. "Mimetische, mythische, metaphysische Verhaltensweisen galten nacheinander als überwundene Weltalter, auf die hinabzusinken mit dem Schrecken behaftet war, daß das Selbst in jene bloße Natur zurückverwandelt werde, der es sich mit unsäglicher Anstrengung entfremdet hatte, und die ihm eben darum unsägliches Grauen einflößte. Die lebendige Erinnerung an die Vorzeit, schon an die nomadischen, um wie viel mehr an die eigentlich präpatriarchalischen Stufen, war mit den furchtbarsten Strafen in allen Jahrtausenden aus dem Bewußtsein der Menschen ausgebrannt worden. Der aufgeklärte Geist ersetzte Feuer und Rad durch das Stigma, das er aller Irrationalität aufprägte, da sie ins Verderben führt." (DA 37) Die Tabuisierung des Rückfalls in den Tierzustand spiegelt sich in den Märchen und Mythen wider.

"In den Märchen der Nationen kehrt die Verwandlung von Menschen in Tiere als Strafe wieder. In einen Tierleib gebannt zu sein, gilt als Verdammnis. Kindern und Völkern ist die Vorstellung solcher Metamorphosen unmittelbar verständlich und vertraut. Auch der Glaube an die Seelenwanderung in den ältesten Kulturen erkennt die Tiergestalt als Strafe und Qual. Die stumme Wildheit im Blick des Tiers zeugt von demselben Grauen, das die Menschen in solcher Verwandlung fürchteten. Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat. Das Märchen spricht die Ahnung der Menschen aus. Wenn aber dem Prinzen dort die Vernunft geblieben war, so daß er zur gegebenen Zeit sein Leiden sagen und die Fee ihn erlösen konnte, so bannt der Mangel an Vernunft das Tier auf ewig in seine Gestalt, es sei denn, daß der Mensch, der durch Vergangenes mit ihm eins ist, den erlösenden Spruch findet und durch ihn das steinerne Herz der Unendlichkeit am Ende der Zeiten erweicht." (DA 264)

Sowie der Mensch durch Vernunft Leid und Tod von Tieren verursacht, ist ihm durch vernünftige Reflexion dieser Vernunft auch die Möglichkeit zur Versöhnung gegeben. Doch immer noch läuft Vernunft unbarmherzig ab, denn "Die Sorge ums vernunftlose Tier [...] ist dem Vernünftigen müßig." (ebd.) Vernunft bedingt ein steinernes Herz: Verhärtung gegenüber Natur und Tieren.

"Die Strenge, mit welcher im Laufe der Jahrtausende die Herrschenden ihrem eigenen Nachwuchs wie den beherrschten Massen den Rückfall in mimetische Daseinsweisen abschnitten, angefangen vom religiösen Bilderverbot über die soziale ächtung von Schauspielern und Zigeunern bis zur Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein, ist die Bedingung der Zivilisation. Gesellschaftliche und individuelle Erziehung bestärkt die Menschen in der objektivierenden Verhaltensweise von Arbeitenden und bewahrt sie davor, sich wieder aufgehen zu lassen im Auf und Nieder der umgebenden Natur. Alles Abgelenktwerden, ja, alle Hingabe hat einen Zug von Mimikry. In der Verhärtung dagegen ist das Ich geschmiedet worden." (DA 189)

Dieses Ich muß in jeder Kindheit neu geschmiedet werden; das Kind muß sich die Identifizierung mit anderem abgewöhnen, seinen mimetischen Impuls verdrängen. Für Adorno ist diese Verdrängung beteiligt am Versagen der Kultur. Er macht dies anhand einer Kindheitserinnerung deutlich:

"Ein Hotelbesitzer, der Adam hieß, schlug vor den Augen des Kindes, das ihn gern hatte, mit einem Knüppel Ratten tot, die auf dem Hof aus Löchern herausquollen; nach seinem Bilde hat das Kind sich das des ersten Menschen geschaffen. Daß das vergessen wird; daß man nicht mehr versteht, was man einmal vorm Wagen des Hundefängers empfand, ist der Triumph der Kultur und deren Mißlingen. Sie kann das Gedächtnis jener Zone nicht dulden, weil sie immer wieder dem alten Adam es gleichtut, und das eben ist unvereinbar mit ihrem Begriff von sich selbst. Sie perhorresziert (verabscheut) den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße." (ND 359)

Kinder zeigen in ihren spontanen, "unpraktischen", nicht-zweckgerichteten Handeln, im mimetischen, nachahmenden Impuls größere Nähe zu höheren Tieren wie den Menschenaffen als Erwachsene, daher das Wort "nachäffen". Die "Albernheit" des Clowns symbolisiert in der Kunst das Erwachsenen im Normfall erfolgreich ausgetriebene Kindliche und Tierhafte.

"Im clownischen Element erinnert Kunst tröstlich sich der Vorgeschichte in der tierischen Vorwelt. Menschenaffen im Zoo vollführen gemeinsam, was den Clownsakten gleicht. Das Einverständnis der Kinder mit den Clowns ist eines mit der Kunst, das die Erwachsenen ihnen austreiben, nicht weniger als das mit den Tieren. Nicht so durchaus ist der Gattung Mensch die Verdrängung ihrer Tierähnlichkeit gelungen, daß sie diese nicht jäh wiedererkennen könnte und dabei von Glück überflutet wird; die Sprache der kleinen Kinder und der Tiere scheint eine. In der Tierähnlichkeit der Clowns zündet die Menschenähnlichkeit der Affen; die Konstellation Tier/Narr/Clown ist eine von den Grundschichten der Kunst." (äT 181f.)

Desweiteren drückt die "unpraktische" kindliche Sichtweise der Tiere die Utopie einer Existenz jenseits der Warengesellschaft aus. Dem Tauschprinzip kommt es an auf den "Erwerb, der [...] Tätigkeiten als bloße Mittel beschlagnahmt, vertauschbar reduziert auf die abstrakte Arbeitszeit." (MM 259) Die Praxis de 05-Jul-2009 g, den gesamten Seinsbereich als ein Gebiet von Mitteln zu betrachten, drückt sich in ihrem Verhältnis zu Tieren aus:

"Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen Marx es nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert liefern. Indem Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das macht sie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig. Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nashorns." (MM 261)

2.4 Tiere und Menschen als Opfer pathischer Projektion

Das Tabu des Rückfalls in Natur/den Tierzustand

Erst die Unterdrückung des Triebs trennt den Menschen vom Tier. Die "Bändigung des Triebs durch die Vernunft" (DA 55) führt dazu, daß der Mensch "das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet" (DA 61). Triebe werden tabuisiert und mit dem Tier gleichgesetzt, über das der Mensch sich zu erheben sich anstrengt. "Der Affekt wird dem Tier gleichgesetzt, das der Mensch unterjocht." (DA 54) Dies führt zur Projektion verdrängter Triebimpulse auf Tiere und andere Menschen, die als Tiere oder tierähnlich verunglimpft werden und in deren Bestrafung und Verfolgung sich der Verdrängende seinem Unmut und seiner Aggression über die Verdrängung freien Lauf lassen und gleichzeitig als Vollstrecker der Zivilisation fühlen kann. Diesen Mechanismus nennen Adorno und Horkheimer "pathische Projektion". Allgemeiner ausgedrückt meint dieser Begriff die Projektion eigener, gesellschaftlich tabuierter und daher verdrängter Triebimpulse und Gefühlsregungen vorzugsweise auf nicht dem eigenen (Volks-)Kollektiv angehörende und gesellschaftlich abgewertete, weil der Natur angeblich näherstehenden, Individuen bzw. (konstruierte) Gruppen, um sie dort zu verfolgen und in der Verfolgung die verdrängten Impulse bzw. die unbewußte Wut über deren Verdrängung auszuleben und sich dadurch als rechtschaffener Durchsetzer des Tabus zu fühlen.

"Die psychoanalytische Theorie der pathischen Projektion hat als deren Substanz die übertragung gesellschaftlich tabuierter Regungen des Subjekts auf das Objekt erkannt. Unter dem Druck des über-Ichs projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch die Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionslüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch die Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr." (DA 201)

Die pathische Projektion ist ein wesentlicher Bestandteil der Theorie einer Dialektik der Zivilisation, die in sich barbarisiert ist. Das zivilisatorische Projekt ist die Loslösung und Beherrschung von Natur im Menschen und außerhalb seiner. Die Hingabe an Natur, an Triebimpulse, der Rückfall in das, was als Tierzustand verstanden wird, wird tabuisiert und gehaßt, weil er die notwendige zivilisatorische Disziplin gefährdet. "Die verhaßte übermächtige Lockung, in die Natur zurückzufallen, ganz auszurotten, das ist die Grausamkeit, die der mißlungenen Zivilisation entspringt, Barbarei, die andere Seite der Kultur." (DA 119)

Wenn das Individuum nicht in der Lage ist, die eigenen Triebe zu unterdrücken, steigt seine Anspannung und wächst seine Wut auf diejenigen, die für ihn das freie Ausleben des Triebes symbolisieren. Es nennt diejenigen Schweine, "deren Trieb auf andere Lust sich besinnt als die von der Gesellschaft für ihre Zwecke sanktionierte." (DA 78)

Der Zwang zur Monogamie und die Tabuisierung freier Sexualität in der abendländisch-christlichen Tradition zum Beispiel führt zur Verachtung des "Tierischen" bei Tieren und Menschen, da es für ungehemmtes Sexualleben steht: "das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten. Denen, die Natur krampfhaft beherrschen, spiegelt die gequälte aufreizend den Schein von ohnmächtigem Glück wider. Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre." (DA 181)

"Der Schwache überhaupt [erregt] die Todfeindschaft des oberflächlich zivilisierten Starken" (DA 119) Physiologisch, biologisch, national, sozial unterlegene Bevölkerungsgruppen allgemein repräsentieren für die "höher Zivilisierten" eine Nähe zur Natur, ein Leben ohne Verdrängung. Deshalb müssen sie verdrängt werden. "Sie leben, obgleich man sie beseitigen könnte, und ihre Angst und Schwäche, ihre größere Affinität (Wesensverwandtschaft) zur Natur durch perennierenden (beständigen) Druck, ist ihr Lebenselement. Das reizt den Starken, der die Stärke mit der angespannten Distanzierung zur Natur bezahlt und ewig sich die Angst verbieten muß, zu blinder Wut." (DA 120)

In ihrer Steigerung wird diese Wut zum Vernichtungswillen, und der Verdrängende "identifiziert sich mit Natur, indem er den Schrei, den er selbst nicht ausstoßen darf, in seinen Opfern tausendfach erzeugt. [...] Was unten liegt, zieht den Angriff auf sich: Erniedrigung anzutun macht dort die größte Freude, wo schon Unglück getroffen hat. Je weniger Gefahr für den oben, desto ungestörter die Lust an der Qual, die ihm nun zu Diensten steht: erst an der ausweglosen Verzweiflung des Opfers wird Herrschaft zum Spaß und triumphiert im Widerruf ihres eigenen Prinzips, der Disziplin." (ebd.)

Für die faschistischen Mörder sind ihre Opfer ihnen moralisch weit unterlegen, sie sind keine Menschen oder gehören zur "Gegenrasse", in jedem Fall nicht zu ihresgleichen. In Wahrheit projizieren sie in ihre Opfer ihr eigenes Spiegelbild, das Nicht-Menschliche eines Gewalttäters. Adorno drückt dies in seinem Aphorismus Menschen sehen dich an aus.

"Die Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind, je brunetter, ‚schmutziger‘, dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nicht weniger als über die Betrachter. Vielleicht ist der gesellschaftliche Schematismus bei der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er dieses Bild von sich schiebt – ‚es ist ja bloß ein Tier‘ -, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das ‚Nur ein Tier‘ immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten. In der repressiven Gesellschaft ist der Begriff des Menschen selber eine Parodie der Ebenbildlichkeit. Es liegt im Mechanismus der ‚pathischen Projektion‘, daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenes Spiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschliche gerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann." (MM 118f.)

Horkheimer beschreibt in einer Notiz mit dem Titel Zum Wesen des Menschen die pathische Projektion noch in einem anderen Zusammenhang, als ungehemmtes Ausleben des verdrängten Vor-Zivilisatorischen in der wütenden Jagd nach dem Wolf, der sich illegal die Tiere des Bauern einverleibt, und gleichzeitig als Verurteilung und Bestrafung des Wolfes für eine Praxis, die man selber vollzieht und um deren Grausamkeit man unbewusst weiß:

"Der Blutdurst der Bauern und sonstiger Helfershelfer, wenn ein Wolf oder ein Berglöwe sich nächtlich ein Schaf holt, verrät die schlecht überwundene Gier nach rohem Fleisch - nach Zerfleischen und überfall. Indem man den tierischen Räuber zur ‘Bestie’ stempelt, schlägt man draußen mit abgefeimter Brutalität, was man drinnen in sich selbst nicht ausrotten kann, das Vor-Zivilisatorische. Es kommt darüber hinaus in dem bestialischen Haß gegen den Wolf aber noch weiter zum Ausdruck, daß man den eigenen Fraß, dem die Schafe ausschließlich vorbehalten bleiben sollen, insgeheim als die grauenvolle Praxis empfindet, die sie wirklich ist. Die Züchter von Haustieren erfahren im täglichen Umgang mit ihnen etwas von deren Individualität und ihrem vertrauendem Leben. Der eigene Widerwille gegen den Mord am Beschützten, gegen den Verkauf an den Schlachter, ist in die untersten seelischen Schichten verstoßen und steigt in der Wut gegen den illegalen Fresser, der soviel harmloser ist als der verräterische Hirte selbst, mit blutunterlaufenen Augen herauf. Im Mord am Wolf bringt man das eigene Gewissen zum Schweigen. Die Gelegenheit ist günstig: man kommt sich dabei auch noch als Beschützer vor - und ist es auch in diesem Augenblick. Der Schutz ist zugleich Totschlag - qui saurait y remédier! -, nur die blutunterlaufenen Augen verraten, daß noch mehr im Spiel ist als die Dialektik der Zivilisation." (NDä 33)

3. Allgemeine Reflexionen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Mensch und Tier

An verschiedenen Stellen ihrer Werke schreiben Adorno und Horkheimer in allgemeiner Form über das, was Menschen und Tiere verbindet bzw. unterscheidet. Horkheimer schreibt, die Züge, die wir am Menschen "menschlich" nennen, teilten wir mit den Tieren, während das "Unmenschliche" viel eher etwas Menschenspezifisches sei. "Die menschlichen Züge teilt der Mensch mit den Tieren, besonders den Herdentieren. Freude, Trauer, Sehnsucht, alles Unmittelbare. Was er für sich allein hat, die bewußte Planung, die Fähigkeit zur Abstraktion und zu flexibler Verfolgung seiner Ziele hängt weit mehr mit dem Unmenschlichen zusammen als mit dem, warum er liebenswert ist. Der Haß gehört ihm denn auch ausschließlich zu." (MHGS 14, Notiz "Mensch und Tier") In der Tierseele seien "die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur organisierende Vernunft verleiht" (DA 263f.). Die besonderen Fähigkeiten des Menschen sind demnach etwas, was ihn zusätzlich prägt, nicht etwas, was ihn grundsätzlich vom Tier unterscheidet. "Die größeren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar." (MuM 136). Besonders deutlich werde die Gemeinsamkeit von Menschen und Tieren in der Erfahrbarkeit von Schmerz. "Im Schmerz wird alles eingeebnet, jeder wird jedem gleich, Mensch und Mensch, Mensch und Tier. Der Schmerz saugt das ganze Leben des Wesens auf, das er ergriffen hat: sie sind nichts mehr als Hüllen von Schmerz." (VuS 298) Dieser Tatbestand ist von besonderer Bedeutung für die kritisch-theoretische Konstruktion einer negativen Moralphilosophie.

4. Die negative Moralphilosophie der kritischen Theorie

4.1 Der materialistische Ansatz der kritischen Theorie

Die kritische Theorie ist eine geschichtlich-materialistische, d.h. sie beleuchtet die Auswirkung von materiellen Verhältnissen, d.h. des gesellschaftlichen und stofflichen Seins in ihrer Struktur und geschichtlichen Entwicklung auf das Bewußtsein.

Die kritische Theorie lehnt sich an an die Marxsche historisch-materialistische Analyse der politischen ökonomie. In dieser bildet die Kritik der Warenform und der Ausbeutung der Arbeit den Schwerpunkt der Analyse. Materie erscheint dort in erster Linie als Naturstoff unter dem Gesichtspunkt seiner Bearbeitung/Nutzbarmachung durch den Menschen bzw. als Gesamtheit der ökonomischen Struktur in ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Dynamik. Lediglich die Ausbeutung des Menschen wird dabei kritisiert, Naturbeherrschung als durchweg zu bejahendes Mittel zur Verwirklichung des "Vereins freier Menschen" aufgefaßt. In der kritischen Theorie wird die Kritik erweitert um die der Naturbeherrschung selbst und Materie steht hier nicht nur für den Naturstoff als Ursprung und Bedingung für den menschlichen Geist, sondern wird unter dem Aspekt der Objektivierung für Herrschaftszwecke betrachtet; in der Kritik der Herrschaft steht er schwerpunktmäßig für das lebendige, empfindungsfähige Fleisch von Tieren und Menschen. "Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, das Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ‘Weh spricht: vergeh.’ (I) Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis." (ND 203)

4.1.1 Moral gesellschaftlich

Die Frage nach der Moral ist die nach der Versöhnung von Allgemeinem und Besonderem, nach dem richtigen "Verhältnis des einzelnen Individuums zu dem Allgemeinen" (PM 23), danach, "wie die individuellen Interessen und Glückansprüche mit irgendwelchen objektiven, für die Gattung verbindlichen Normen in übereinstimmung zu bringen seien" (PM 27).

Die bürgerliche Gesellschaft beabsichtigte diese Versöhnung von Individuum und Gesellschaft mittels ihres Ideals von "Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit". Die materialistische Kritik der politischen ökonomie habe ergeben, "daß die Verwirklichung des Ideals, mit dem die gegenwärtige [bürgerliche] Gesellschaft ins Leben getreten ist, eben die Vereinigung von besonderem und allgemeinem Interesse, nur dadurch erfolgen kann, daß ihre eigenen Bestimmungen aufgehoben werden" (MuM 137) Die kritische Theorie erweitert diese Kritik, indem sie den der bürgerlichen Ideologie wie auch ihrer marxistischen Kritik innewohnenden Anthropozentrismus problematisiert. Sie stellen die Vorstellung der Inthronisierung der reinen naturbeherrschenden Vernunft zum Wohle der menschlichen Gattung (statt nur zum Wohle ökonomisch Mächtiger wie bisher) als neues Leitbild in Frage, da auch solche Vernunft sich auf den Zweck der Selbsterhaltung beschränkt und damit instrumentell bleibt. "Es ist aber äußerst fragwürdig, ob man dieses unterdrückende, partikulare, auf die Selbsterhaltung der Gattung abzielende Prinzip nun als das einer objektiven moralischen Vernunft überhaupt ohne weiteres setzen kann. [...] Wenn man sich so etwas wie die Institutionalisierung der Vernunft als des obersten Prinzips der Menschheit ausmalt, dann hätte man wahrscheinlich doch viel eher sich vorzustellen, daß in ihr dieses herrschaftliche Prinzip: so muß es sein, so muß es zugerichtet werden, kontrolliert werden, organisiert werden, aufhört und sich löst, als daß es sich ad calendas graecas perpetuiert (ständig weiter fortsetzt) und dann am Schluß im Namen des Moralischen die Gesellschaft selbst als eine unermeßliche Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur sich etabliert. Das scheint mir eigentlich das Tiefste zu sein, was gegen den Versuch spricht, die subjektive Klugheit der Selbsterhaltung mit dem obersten allgemeinen sittlichen Prinzip gleichzusetzen." (PM 215f.)

Da in einer herrschaftlich-warenförmig organisierten Gesellschaft die Bedingungen, nach denen sie funktioniert, zwar von Menschen geschaffen sind und sich von Menschen ändern ließen, aber als natürlich und notwendig erscheinen, ist für eine Moralphilosophie die Reflexion des gesellschaftlichen Bannes erforderlich; Moral ohne Systemkritik, ohne Rekurs auf den "gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang" (DA 48), ist unmoralisch, da sie ihn nicht hinterfragt. Die Form, in der gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen als Naturschicksal entgegentreten, drückt ihre gesellschaftliche Verflochtenheit aus; "[...] in zweiter Natur, in der universalen Abhängigkeit, in der wir stehen, gibt es keine Freiheit; und es gibt darum in der verwalteten Welt auch keine Ethik; und deshalb ist die Voraussetzung der Ethik die Kritik an der verwalteten Welt." (PM 261)

4.1.2 Moral geschichtlich

Von zentraler Bedeutung für die kritische Theorie der Moral ist deren geschichtliche Entwicklung. Horkheimer führt in seinem Aufsatz Materialismus und Moral von 1933 aus, Moral als selbständige Entscheidung über gut und böse sei erst eine späte geschichtliche Erscheinung, der Charakter früherer Subjekte viel zwanghafter gewesen. Und seitdem eine gewisse Entscheidungsfreiheit weiter verbreitet ist, zielt Moral auf die"Versöhnung vom allgemeinem und besonderem Interesse" eher insofern ab, daß sie als Mittel dient, den Massen eine von ihren Lebensinteressen abweichende Handlung abzuverlangen. Moral ist in dieser Hinsicht also Herrschaftsinstrument im Dienste der bestehenden Ordnung.

Der Materialismus versuche, die geschichtliche Entwicklung und die Beziehung der gesellschaftlichen Klassen berücksichtigend, "die wirklichen Verhältnisse aufzuzeigen, aus denen das moralische Problem hervorgeht, und die sich, wenn auch in verzerrter Weise, in den moralphilosophischen Lehren spiegeln." (MuM 118) Ob eine Grausamkeit gesellschaftlich verurteilt wird oder institutionalisiert bleibt/wird, hängt davon ab, inwieweit sie für den ökonomischen Fortschritt einer Gesellschaft notwendig ist. Sie wird dann nicht moralisch als verwerflich betrachtet, sondern im Gegenteil moralisch gerechtfertigt. Das ist das Prinzip, nach dem seit je Ideologie funktioniert. Antike "Kulturleistungen wie Häuser, Tempel, Pyramiden, Straßen, Wasserleitungen und sonstige Baumonumente verlangen den Transport schwerer und schwer zu handhabender Rohstoffe." (ZuS 202) Dies war weder durch Zugtiere noch durch freiwillige Arbeit von Menschen möglich, also mußten Sklaven her. "Die Rechtfertigung der Sklaverei, mag sie das brutale Gesicht der aristotelischen Philosophie oder die erhabenen Züge religiöser Lehren annehmen, ist nichts anderes als der ideologische Schein, mit dem eine ökonomisch notwendige, gesellschaftlich allerdings furchtbare Einrichtung verklärt wird." (ZuS 207) "Die philosophischen Begriffe, mit denen Platon und Aristoteles die Welt darstellten, erhoben durch den Anspruch auf allgemeine Geltung die durch sie begründeten Verhältnisse zum Rang der wahren Wirklichkeit. Sie stammten [...] vom Marktplatz von Athen; sie spiegelten mit derselben Reinheit die Gesetze der Physik, die Gleichheit der Vollbürger und die Inferiorität von Weibern, Kindern, Sklaven wider." (DA 28) Die Entwicklung der Produktivkräfte und die mit ihr verbundene Produktionsverhältnisse bestimmen also wesentlich die jeweilige gesellschaftliche moralische Gesinnung mit. "Die unterste tragende Grundlage des menschlichen Lebens sind die Produktivkräfte, d.h. dasjenige Stück inner- und außermenschlicher Natur, das die Menschen zu beherrschen verstehen. Zu ihr gehören auch die Tiere." (ZuS 208) Die moralische Abwertung von Tieren ist geschichtlich also sicherlich in nicht geringem Ausmaß auf die Notwendigkeit, sich ihre Arbeitskraft anzueignen, sowie auf ihre Eßbarkeit zurückzuführen. In der Regel haben die Menschen mehr Mitgefühl mit Haustieren als mit Nutztieren. Inwieweit die Produktivkraftentwicklung mit der Möglichkeit einer Entwicklung einer Moral gegenüber Tieren zusammenhängt, soll in Punkt 4.3 weiter erörtert werden.

Den Zusammenhang von Herrschaft und Moral reflektierend, gilt die Kritik der kritischen Theorie nicht der Moral an sich, sondern ihrer ideologischen Verknüpfung mit gesellschaftlicher Herrschaft. "Die Moral wird vom Materialismus [...]keineswegs als bloße Ideologie im Sinne falschen Bewußtseins verworfen. Sie gilt als menschliche Erscheinung, die während der Dauer des bürgerlichen Zeitalters gar nicht zu überwinden ist." (DA 119) Moralgeschichtlich ist die Hervorhebung der Tugendhaftigkeit von kühler Vernunft und Nüchternheit und die Abwertung des Mitleids bezeichnend für die Verflechtung der Moral mit Herrschaft. Daher ist es bedeutsam, auf diesen Aspekt näher einzugehen.

4.1.2.1 Mitleid in der (Moral-)Geschichte

In der patriarchal geprägten abendländischen Vernunftphilosophie ist das Mitleid, als ein primär affektbestimmtes Phänomen, meist nicht in die Grundlegung der Moral einbezogen worden. Die "patriarchal zweckvolle Härte" des bürgerlichen Subjekts duldet kein Mitleid. Mitleid ist Schwäche, gefährdet die Tugend. Bürgerlich-patriarchale Tugend besteht seit je in der Tüchtigkeit. In der Moralgeschichte ist Mitleid zwar "Menschlichkeit in unmittelbarer Gestalt, aber zugleich ‚mala et inutilis‘ (schlecht und unnütz - Spinoza), nämlich als das Gegenteil der männlichen Tüchtigkeit, die von der römischen virtus (männliche Tapferkeit, Tüchtigkeit) über die Medicis (II) bis zur efficiency (Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit) unter den Fords stets die einzig wahre bürgerliche Tugend war." (DA 109) "Bürgerliche Kälte" ist das "Widerspiel des Mitleids" (DA 110); Mitleid ist weibisch, "die Sünde schlechthin" (DA 109). "Vom Weibe stammen die ‘Ausbrüche von unbegrenztem Mitleid’ [Nietzsche]" (ebd.) "Mitleid ist anrüchig. [...] ‘[...] Sie ist staatsgefährlich, nimmt die nötige Härte und Straffheit, macht, daß Heroen sich gebärden wie heulende Weiber usw.’ [Nietzsche]" (DA 110)

Dagegen bestimmten Adorno und Horkheimer Mitleid als das "nach der Formalisierung der Vernunft" einzige, daß "als das sinnliche Bewußtsein der Identität von Allgemeinem und Besonderem, als die naturalisierte Vermittlung, noch übrig war" (DA 108f.). Weil das Mitleid als Identifizierung mit dem Leid anderer die Perspektive des Universellen und Individuellen, Allgemeinen und Besonderen in sich vereinigt, vermag nur es und nicht die reine, formalisierte Vernunft, die Grundlage für Moral zu bilden.

Allerdings ist Mitleid in ihrer Abspaltung von Vernunft keine Alternative zu dieser. Vernunft ohne Mitleid bedeutet instrumentelle Vernunft und bürgerliche Kälte; Mitleid ohne Vernunft jedoch führt in konkreten Situationen eventuell zu individueller Hilfeleistung, kratzt aber nicht an den Ursachen des gesellschaftlichen Unrechts – also an Arbeits-, Tausch- und Herrschaftsverhältnisse -, auf deren Beseitigung es ankommt und die mittels Vernunft umfassend analysiert werden müssen, um ihnen den Schein des naturhaften Schicksals zu nehmen und ihre Dynamik und Struktur in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Nicht die "Weichheit sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig." (DA 110); "Indem Mitleid die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält, nimmt es das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin." (ebd.)

4.1.2.2 Schopenhauer und seine Bedeutung für die kritische Theorie

Schopenhauer war der erste Philosoph, der Mitleid zum Fundament der Moral erklärte. Das Mitleid sei die wahre moralische Grundtriebfeder der Moral. Er verstand es als "ganz unmittelbare [...] Teilnahme [...] am Leiden eines anderen", wobei "das Leiden eines anderen unmittelbar mein Motiv [wird]" (GM 740). Mitleid ist bei Schopenhauer keine bloß subjektive Güte, sondern intuitives Wissen vom Empfinden anderer. Es bedeutet die Verneinung des destruktiven ‚Willens‘ und des aufhebbaren Leidens. Schopenhauers Fundierung der Moral auf das Mitleid geht einher mit seiner Einbeziehung der Tiere in die Ethik: "[...]grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. [...] Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als die echte ferner dadurch, daß sie auch die Tiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den andern europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist" (GM 770/773). Diesen Tatbestand stellt Horkheimer als dessen Verdienst dar:

"Die Solidarität der Menschen ist [...] ein Teil der Solidarität des Lebens überhaupt. Der Fortschritt in der Verwirklichung jener wird auch den Sinn für diese stärken. Die Tiere bedürfen des Menschen. Es ist die Ehre der Schopenhauerschen Philosophie, daß sie die Einheit von uns und ihnen ganz ins Licht gerückt hat. Die größeren Gaben, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar." (MuM 136)

Auch Adorno rekurriert in diesem Sinne positiv auf Schopenhauer:

"Schopenhauer hat seinerzeit es als das besondere Verdienst seiner Moralphilosophie angesprochen, daß in ihr auch das Verhalten zu den Tieren inbegriffen ist, das Mitleid gegenüber den Tieren, und man hat das oft so als eine Schrulle des Privatiers behandelt. Ich glaube, daß sich an solchen exzentrischen Zügen gerade ungeheuer viel erkennen läßt. Das heißt, der Schopenhauer hatte wahrscheinlich den Verdacht, daß die Etablierung der totalen Vernunft als des obersten objektiven Prinzips der Menschen eben damit jene blinde Herrschaft über die Natur fortsetzen könnte, die in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck hat. Er hat damit sozusagen den wunden Punkt des übergangs der subjektiven selbsterhaltenden Vernunft in das oberste moralische Prinzip bezeichnet, welches für die Tiere und das Verhalten zu Tieren keinen Raum läßt. Und insofern ist gerade diese Exzentrizität von Schopenhauer Zeichen einer sehr großen Einsicht." (PM 215)

4.2 Das Verhältnis von Rationalität und Gefühl in traditioneller und kritischer Moral

Aufgrund des bereits hervorgehobenen Charakters der Vernunft als Instrument der herrschaftlichen Selbsterhaltung ist Moral nicht allein mittels Vernunft begründbar. "Alle Versuche, die Moral [...] auf irdische Klugheit zu begründen, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Vorerst fallen sie und die Klugheit in den meisten Fällen auseinander." (MuM 133) Die "Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen" (DA 127), gilt es festzustellen und zu reflektieren. "Soweit Verstand, der am Richtmaß der Selbsterhaltung groß wurde, ein Gesetz des Lebens wahrnimmt, ist es das des Stärkeren." (DA 106)

Daher insistieren Horkheimer und Adorno auf die Nicht-Rationalisierbarkeit der Moral. Nach Horkheimer stellt sie ein psychisches Phänomen dar, das sich kulturell und über den Generationenwechsel vermittelt: "Sie ist keiner Begründung fähig – weder durch Intuition noch durch Argumente. Vielmehr stellt sie eine psychische Verfassung dar. Diese zu beschreiben, in ihren persönlichen Bedingungen und Mechanismen der Fortpflanzung von einer Generation zur anderen verständlich zu machen, ist Sache der Psychologie." Nicht aus der Vernunft (in ihrer instrumentellen, naturhaften Form) ist ein Ausbrechen aus dem Kreislauf der Naturgeschichte zu erwarten, sondern aus dem "unvernünftigen" Impuls der Rücksichtnahme und Hilfeleistung. Diesen Impuls nennt Horkheimer "moralisches Gefühl", Adorno den "moralischen Impuls" Auf beide Begriffe soll im Folgenden kurz eingegangen werden.

4.2.1 Das moralische Gefühl bei Horkheimer

Kennzeichnend für das "moralische Gefühl" ist für Horkheimer "ein Interesse, das vom ‚natürlichen Gesetz‘ abweicht und nichts mit privater Aneignung und Besitz zu tun hat" (MuM 133) Das moralische Gefühl habe etwas mit Liebe zu tun, aber diese Liebe betreffe nicht die Person als Mittel. Sie sei unmittelbar verbunden mit Richtung auf ein zukünftiges glückliches Leben, welches sich aus der Not der Gegenwart ergebe. Dieses Ziel des glücklichen Lebens bezieht Horkheimer ausdrücklich auf Menschen und Tiere gemeinsam "Es erscheint ihr [der Liebe bzw. dem moralischen Gefühl], als hätten die lebenden Wesen einen Anspruch auf Glück, und sie fragt nicht im geringsten nach einer Rechtfertigung oder Begründung dafür. [...] Die größeren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, doch die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar" (MuM 134ff.)

Das moralische Gefühl existiert zwar bei vielen Menschen, aber es krankt meistens daran, daß es sich zwar bei unvorhergesehenen, nicht alltäglichen Katastrophen und Greueltaten in konkreter Hilfeleistung ausdrückt, nicht jedoch "angesichts des schreienden Unrechts, das um reiner Eigentumsinteressen willen, also im Sinne des ‚natürlichen Gesetzes‘ [...] sich vollzieht" (MuM 143)

4.2.2 Der moralische Impuls bei Adorno

Adorno führt den Begriff des leibhaften Impulses ein, der sich vermittelt aus der Dialektik von Geist und Natur. Diese seien weder wie in der cartesianischen Philosophie dualistisch getrennt, noch ineinander aufzulösen. "Geist ist auf Dasein so wenig zu nivellieren wie dieses auf ihn. Doch das nicht seiende Moment am Geist ist so ineinander mit dem Dasein, daß es säuberlich herausklauben soviel wäre wie es vergegenständlichen und fälschen. Die Kontroverse über die Priorität von Geist und Körper verfährt vordialektisch. Sie schleppt die Frage nach dem Ersten weiter. [...] Beides, Körper und Geist, sind Abstraktionen von ihrer Erfahrung, ihre radikale Differenz ein Gesetztes. Sie reflektiert das historisch gewonnene ‚Selbstbewußtsein‘ des Geistes und seine Lossage von dem, was er um der eigenen Identität willen negiert." (ND 202)

In der Dimension von Lust und Unlust rage Körperliches ins Bewußtsein hinein. Durch ihre körperliche Vermittlung stellten sie Objektivität dar. Schmerz und Negativität sei die Gestalt von Physischem, als Objektivem, und Glück ziele auf sinnliche Erfüllung ab und gewinne dadurch seine Objektivität. Der Ausdruck des Leidens sei daher Bedingung von Wahrheit als Ausdruck von Objektivität. "Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektives erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt" (ND 29);

Das Geistige entspringt zwar einerseits dem Drang nach Selbsterhaltung, einmal aus der Natur hervorgetreten, bietet es jedoch zugleich die Möglichkeit der Selbstbesinnung. Indem es Leid ausdrücken und über Ursachen reflektieren kann, bietet es die potentielle Möglichkeit seiner Abschaffung. "Alles Geistige ist modifiziert (abgewandelter) leibhafter Impuls, und solche Modifikation der qualitative Umschlag in das, was nicht bloß ist. [...] Der Impuls, intramental (innergeistig) und somatisch (körperlich) in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte. Ihr Phantasma (Trugbild), das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interdependenz (gegenseitig ursächlicher Abhängigkeit) sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur." (ND 228)

Der Impuls drückt sich als moralischer aus in konkretem Mitgefühl/konkreter Solidarität bei konkret wahrgenommenen Unrecht. Er lasse sich nicht rationalisieren, nicht durch die Aufstellung von Prinzipien oder Handlungsanweisungen vermitteln. "Kritik an der Moral gilt der übertragung von Konsequenzlogik aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organ der Unfreiheit. Der Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern, der dem moralischen Verhalten immanent ist, würde durchs Bestreben rücksichtsloser Rationalisierung verleugnet; das Dringlichste würde abermals kontemplativ (beschaulich), Spott auf die eigene Dringlichkeit. " (ND 281)

4.3 Politik

Das Ziel der Politik nach Horkheimer ist das Glück des Allgemeinen. Mitleid und Politik seien die beiden Formen, in denen sich das moralische Gefühl äußere. Mitleid meine Rücksicht mit den Menschen in der Nähe, Politik mit denen in der Ferne. Mitleid und Politik sind die aufs Individuelle und Allgemeine bezogenen Gestalten des Moralischen.

Da Mitleid allein, wie oben angeführt, nicht an den Ursachen des Unrechts ansetzt, an den gesellschaftlichen Strukturen, ist seine Ergänzung um eine gesellschaftsverändernde Politik notwendig. Deshalb resümiert Adorno: "[...] was Moral heute vielleicht überhaupt noch heißen darf, das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt - man könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirklichenden gelegen wäre." (PM 262)

Genauer formuliert ist das Ziel der Politik die "Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist" (ND 203). Diese Aufgabe liege nicht beim Einzelnen, sondern bei der gesamten Gattung. Da jedoch "die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird" (DA 46f.), verlangt "der Zweck, der allein Gesellschaft zu Gesellschaft macht, daß sie so eingerichtet werde, wie die Produktionsverhältnisse [...] unerbittlich es verhindern, und es den Produktivkräften nach hier und heute unmittelbar möglich wäre. Eine solche Einrichtung hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen." (ND 203f.)

Sowie in bestimmten geschichtlichen Entwicklungsstufen und Gesellschaftsformen mitunter die Notwendigkeit bestand/besteht, Tiere als Arbeitskraft und/oder als Nahrungsmittel zu benutzen, hat sich dieses mit fortschreitender Produktivkraftentwicklung größtenteils geändert. Innerhalb technisch fortgeschrittener Gesellschaften ist weder die Ausbeutung der tierischen Arbeitskraft noch ein Verzehr von Tieren oder Tierprodukten notwendig.

Ein Phänomen der Warenwirtschaft ist, daß einerseits zwar Tierausbeutung immer weniger "notwendig" wird (insofern sie es überhaupt in bestimmten Zeiten und Gegenden war oder ist), in dem Sinne, daß immer weniger Leute existentiell von ihr abhängig sind, es auf der anderen Seite jedoch ein wesentlicher Bestandteil der Warenform ist, daß man etwas, daß man als Ware verkaufen will zum Zeitpunkt des Tauschaktes, durch den der Wert der Ware sich erst realisiert, der Zweck der Warenproduktion sich also erfüllt, nicht die Bedingungen ansieht, unter denen eben diese Ware produziert wurde. Sie erscheint als geschichtslos. Das macht es dem Käufer einfach, von dem Prozeß abzusehen, der notwendig ist, um ein Tier erst zur Ware Fleisch umzuwandeln. Im Tauschakt "werden nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel (vergleichbar), identisch" (ND 149). Die Abstraktion im Tauschprinzip schließt die "Eliminierung der Natur und der Naturverhältnisse der tauschenden ‘Subjekte’ in sich,", enthalte "also nichts als eine Vergesellschaftung getrennt vom Stoffwechselprozeß der Warenbesitzer mit der Natur" (GbMA 38). Dieser "Stoffwechselprozeß der Warenbesitzer mit der Natur" nimmt im Fall der Fleischproduktion die Gestalt von Tierfabriken an, in denen lebende Tiere als Produktivkräfte zum Zwecke der Produktion von Mehrwert fungieren. Das, was sie produzieren, etwa Milch, Eier oder ihren eigenen Körper als wachsende Zellmasse stellt einen Gebrauchswert für den geldbesitzenden Gourmet dar; der Tier-(d.h. Kapital-)Besitzer tauscht die Produkte oder Teile des Tierkörpers mit diesem gegen einen von der zur Herbeiführung und Aufrechterhaltung dieser Produktion notwendigen durchschnittlichen gesellschaftlichen, abstrakt-menschlichen Arbeitszeit abhängigen äquivalentbetrag in Geldform. Durchschnittlich gesellschaftliche Arbeitszeit meint, daß nicht die individuell für die Herstellung der Ware benötigte Arbeitszeit deren Wert bestimmt, sondern aufgrund der Konkurrenz mit anderen Anbietern die nach dem gegenwärtigen technischen Stand der Produktionsmittel im Durchschnitt notwendige. Abstrakt-menschlich meint die notwendige direkte menschliche Arbeitszeit zusammen mit der, die in den Produktionsmitteln vergegenständlicht sind (d.h. durch ihre Planung und Herstellung bereits aufgewendet wurden). Das bedeutet, daß dadurch, daß der Züchter Tiere für den Markt "produziert" bzw. produzieren läßt, ihn das kapitalistische Konkurrenzprinzip zwingt, Kosten und Zeit für die Aufzucht möglichst tief und die Ausbeute möglichst hoch zu halten, da ihn sonst andere Anbieter, die preiswerter produzieren und somit billiger verkaufen können, vom Markt verdrängen. " Die Entfesselung der Produktivkräfte, Tat des naturbeherrschenden Geists, hat Affinität zur gewalttätigen Herrschaft über Natur" (ND 301); und diese findet "in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck" (PM 215).

Daher gehört eine demwidersprechend tierrespektierende Gesellschaft zu einer Versöhnung von Geist und Natur hinzu; es sei "keine freie Gesellschaft vorstellbar, zu deren ‘regulativen Ideen der Vernunft’ nicht der gemeinsame Versuch gehörte, die Leiden, welche die Menschen den Tieren zufügen, folgerichtig zu verringern." (KuR 83) Doch aufs Tier zu achten gilt heute wie zu Zeiten Horkheimers als reaktionär: "In dieser vom Schein befreiten Welt, in der die Menschen wieder zu den klügsten Tieren wurden, die den Rest des Universums unterjochen, gilt aufs Tier zu achten nicht mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt. [...] Klar sind die Fronten geschieden; wer gegen Hearst (III) und Göring kämpft, hält es mit Pawlow und Vivisektion, wer zögert, ist Freiwild für beide Seiten. Er soll Vernunft annehmen. Die Wahl ist vorgegeben und unausweichlich. [...] Vernünftig sei das Wirkliche."; die Vernünftigen der Gesellschaft bekennen sich "zur menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur." (DA 270)

4.4 Das Zusammenwirken von moralischem Impuls und Reflexion

Mimesis, als Identifikation mit dem Leiden anderer, ist für die kritische Theorie der Ursprung moralischen Handelns; das Denken ist in der Lage, den gesellschaftlichen Bann in einem gewissen Maße zu reflektieren. Mitleid und reflektierendes Denken sind daher Momente einer kritischen Selbstbesinnung innerhalb der "Naturgeschichte". Der moralische Impuls bzw. das moralische Gefühl ist die diesseits des gesellschaftlichen Bannes liegende Wurzel der kritischen Moral, die gesellschaftliche Reflexion bezweckt die Transzendenz des Bannes, sie ist die Anstrebung des dem durch Herrschaft und Warenform vermittelten Verblendungszusammenhang Jenseitigen. Was jenseits des Bannes liegt, kann nicht formuliert werden, da alles diesseitige Denken vom Bann affiziert ist. Aber mittels Hegels Werkzeug, der bestimmten Negation, läßt sich bestimmen, was man nicht will: "Utopie steckt in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist, und das dadurch, daß es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll." (Adorno im Gespräch mit Ernst Bloch 1964)

4.5 Die Negativität der kritischen Theorie

Die kritische Theorie ist eine negative. "Die kritische Theorie der Gesellschaft besitzt keine Begriffe, die die Kluft zwischen dem Gegenwärtigen und seiner Zukunft überbrücken könnten; indem sie nichts verspricht und keinen Erfolg zeigt, bleibt sie negativ" (EM 268). Die Weigerung, einen positiven Begriff einer zukünftigen Gesellschaft zu entwickeln, verschuldet sich allerdings nicht mangelndem Interesse an Emanzipation, sondern ist gerade auf dieses zurückzuführen. Es gibt sich keinem Optimismus hin, wo keiner zu begründen ist, und ist skeptisch gegenüber zwanghafter Praxis, die die eigene Ohnmacht überspielen will. "Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, konkret sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives." (AGS 10.2, 798) Die "fast unlösbare Aufgabe" bestehe dagegen "darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." (MM 63); "Treue zur Philosophie bedeutet, es der Angst zu verbieten, daß sie einem die Denkfähigkeit verkümmern läßt." (KiV 153)

Der Zwang zur Praxis dient nur zu oft dazu, dem Denken aus dem Weg zu gehen. Das drückt Adorno aus, indem er anspielt auf den Ausspruch Marxens, die Philosophen hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es komme darauf an, sie zu verändern: "Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Das summarische Urteil, sie habe die Welt bloß interpretiert, sei durch Resignation vor der Realität verkrüppelt auch in sich, wird zum Defaitismus (Mut- und Hoffnungslosigkeit) der Vernunft, nachdem die Veränderung der Welt mißlang. [...] Der Augenblick, an dem die Kritik der Theorie hing, läßt nicht theoretisch sich prolongieren (verlängern). Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem Exekutiven (Vollstreckenden) den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte." (ND 15) Theorie und Praxis sind nicht zwangsweise unter einen Hut zu bringen, nicht durch bloßen Willen zu vermitteln, wenn die gesellschaftliche Situation es nicht zuläßt: "Das Ungetrennte lebt einzig in den Extremen, in der spontanen Regung, die, ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, daß das Grauen weitergehe, und in dem von keinem Anbefohlenen terrorisierten theoretischen Bewußtsein, das durchschaut, warum es gleichwohl unabsehbar weitergeht." (ND 281) Im Gegensatz zu politischen Bewegungen, die durchherrscht sind von repressiven Doktrinen und Kollektivzwängen, steht Kritische Theorie für die Verwirklichung autonomer Vernunft, für unabhängiges Denken und "Unbeirrbarkeit ohne Doktrin" (DA 253). Sie liefert kein System, keine Vorbilder oder Autoritäten und verweigert sich jeder Form repressiver Kollektivität. Adorno kritisiert ausdrücklich die "Kapitulation vorm Kollektiv", die politische Bewegungen, gemeint ist in diesem Fall die 68er Studentenbewegung, kennzeichnet: "Keine durchsichtige Beziehung waltet zwischen den Interessen des Ichs und dem Kollektiv, dem es sich überantwortet. Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig wird. Unausdrücklich hat sich ein wenig Kantischer kategorischer Imperativ aufgerichtet: du mußt unterschreiben. Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens." (AGS 10.2, 798)

4.6 Das Eingedenken der Natur im Subjekt

Vernunft ist mit Natur identisch als Natur beherrschende, nicht-identisch als diese Natur reflektierende. Sie wird, "indem sie Instrument zur Versöhnung ist, zugleich mehr sein als ein Instrument" (KiV 165): Das verweist auf einen kritischen Vernunft- bzw. Aufklärungsbegriff, den Adorno und Horkheimer dem naturhaft naturbeherrschenden entgegensetzen. Er wird in den letzten Seiten des ersten Kapitels der Dialektik der Aufklärung angerissen:

"Ohne sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden zu können, reicht es [das Denken] doch hin, die Logik […], mit der es von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzuerkennen. Denken, in dessen Zwangsmechanismus Natur sich reflektiert und fortsetzt, reflektiert eben vermöge seiner unaufhaltsamen Konsequenz auch sich selber als ihrer selbst vergessene Natur, als Zwangsmechanismus. […] Aufklärung ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird."(DA 45ff.)

"In der Selbsterkenntnis des Geistes als mit sich entzweiter Natur", d.h. als Natur, die Natur beherrscht, erkennt er sich selbst als blind beherrschend und durch Herrschaft verstümmelt. Diese Reflexion, in der Geist Herrschaft zurücknimmt, ist jedoch auf den Begriff, Resultat der Naturbeherrschung, angewiesen.

"Naturverfallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurücknimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur versklavt. […] Während jedoch die reale Geschichte aus dem realen Leiden gewoben ist, das keineswegs proportional mit dem Anwachsen der Mittel zu seiner Abschaffung geringer wird, ist die Erfüllung der Perspektive auf den Begriff angewiesen. Denn er distanziert nicht bloß, als Wissenschaft, die Menschen von der Natur, sondern als Selbstbesinnung eben des Denkens, das in der Form der Wissenschaft an die blinde ökonomische Tendenz gefesselt bleibt, läßt er die das Unrecht verewigende Distanz ermessen. Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt [...]" (ebd.)

Gemeint ist einerseits das Eingedenken (die kritische Reflexion) des naturhaften, selbsterhaltenden Moments der Vernunft sowie der Totalität der Gesellschaft als naturwüchsig naturbeherrschende, warenproduzierende und -tauschende "zweite Natur", andererseits das Eingedenken der äußeren und inneren Natur im eigenen wie im fremden Subjekt (also der äußeren Umwelt sowie des Leibes und der Psyche von Tieren und Menschen in ihrer Empfindsamkeit) als durch Herrschaft verstümmelte. Reflexion des Denkens enthüllt die "Geschichte des Denkens als Organ der Herrschaft". Indem Denken "nun im eigenen Spiegel vor sich selbst erschrickt, eröffnet es den Blick auf das, was über es hinaus liegt." (DA 126) Erst das Heraustreten des Gedankens aus dem Banne der Natur, "indem er als deren eigenes Erzittern vor ihr selbst sich bekennt" (DA 47), ermöglicht ein Heraustreten aus dem blinden Herrschaftsprinzip und der Warengesellschaft, aus dem "Fressen und Gefressenwerden" sowie dem Zur-Ware-Machen und Zur-Ware-Werden von Tieren und Menschen.

Quellen:
DA: Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988
AGS: Adorno, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1997
äT: Adorno, ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Band 7
MM: Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften Band 4
ND: Adorno, Negative Dialektik, Gesammelte Schriften Band 6
PM: Adorno, Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt 1996
MHGS: Horkheimer, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1985
EF: Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Traditionelle und kritische Theorie
KiV: Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1985
MuM: Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Gesammelte Schriften Band 3
NDä: Horkheimer, Notizen 1950-1969 und Dämmerung, Frankfurt a.M. 1974
TuK: Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt a.M. 1992
VuS: Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, in: Traditionelle und kritische Theorie
ZuS: Leo Löwenthal, Zugtier und Sklaverei in: Zeitschrift für Sozialforschung, hrsg. Von Max Horkheimer, 2. Jahrgang, Heft 2 (1933), Reprint München 1980
EM: Marcuse, Der eindimensionale Mensch, in: Schriften Band 7, Frankfurt a.M. 1989
KuR: Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt 1973
GM: Schopenhauer, über die Grundlage der Moral, in: ders., Sämtliche Werke Bd. III, Frankfurt a.M. 1986
GbMA: Alfred Sohn-Rethel, Das Geld, die bare Münze des Apriori, Berlin 1990

Fußnoten:

(I) Adorno zitiert hier aus dem Nachtwandler-Lied in
Nietzsches Also sprach Zarathustra; vollständig lautet es:
"O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
‘Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht -:
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!’"
(Also sprach Zarathustra I, S. 577f., Werke, Leipzig 1930)

(II) Die Medicis: Familie, die in der mittelalterlichen Republik Florenz durch Handel, Bankgeschäfte und politischen Einfluß eine führende Machtposition innehatte

(III) Begründer des größten Pressekonzerns der USA, Erfinder der Boulevardpresse

aus: Tierechts Aktion Nord (Hrsg.): "Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit": Reflexionen zum Mensch-Tier-Verhältnis. Hamburg, 6/1999 E.i.S.
[ www.tierrechts-aktion-nord.de ]

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Franz Marc, Tierschicksale

[aus dem Programm der TAN-Tagung vom 17.-19.2.2006 in Hamburg]



Mensch und Tier

von Max Horkheimer


Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt. Die Behavioristen haben ihn bloß scheinbar vergessen. Daß sie auf die Menschen dieselben Formeln und Resultate anwenden, die sie, entfesselt, in ihren scheußlichen physiologischen Laboratorien wehrlosen Tieren abzwingen, bekundet den Unterschied auf besonders abgefeimte Art. Der Schluß, den sie aus den verstümmelten Tierleibern ziehen, paßt nicht auf das Tier in Freiheit, sondern auf den Menschen heute. Er bekundet, indem er sich am Tier vergeht, daß er, und nur er in der ganzen Schöpfung, freiwillig so mechanisch, blind und automatisch funktioniert, wie die Zuckungen der gefesselten Opfer, die der Fachmann sich zunutze macht. Der Professor am Seziertisch definiert sie wissenschaftlich als Reflexe, der Mantiker am Altar hatte sie als Zeichen seiner Götter ausposaunt. Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist. Der Mangel an Vernunft hat keine Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht. Die ganze Erde legt für den Ruhm des Menschen Zeugnis ab. In Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden auf Grund der ersten Planung überwältigten, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren. Dieser sichtbare Hergang verdeckt den Henkern den unsichtbaren: das Dasein ohne Licht der Vernunft, die Existenz der Tiere selbst. Sie wäre das echte Thema der Psychologie, denn nur das Leben der Tiere verläuft nach seelischen Regungen; wo Psychologie die Menschen erklären muß, sind sie regrediert und zerstört. Wo man unter Menschen Psychologie zu Hilfe ruft, wird der karge Bereich ihrer unmittelbaren Beziehungen nochmals verengt, sie werden sich auch darin noch zu Dingen. Der Rekurs auf Psychologie, um den anderen zu verstehen, ist unverschämt, zur Erklärung der eigenen Motive sentimental. Die Tierpsychologie aber hat ihren Gegenstand aus dem Gesicht verloren, über der Schikane ihrer Fallen und Labyrinthe vergessen, daß von Seele zu reden, sie zu erkennen, gerade und allein dem Tiere gegenüber ansteht. Selbst Aristoteles, der den Tieren eine, wenn auch inferiore Seele zusprach, hat aber lieber von den Körpern, von Teilen, Bewegung und Zeugung gehandelt, als von der dem Tiere eigenen Existenz.

Die Welt des Tieres ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situationen dasselbe Ding. Wenngleich die Möglichkeit von Wiedererkennen nicht mangelt, ist Identifizierung aufs vital Vorgezeichnete bescllränkt. Im Fluß findet sich nichts, das als bleibend bestimmt wäre, und doch bleibt alles ein und dasselbe, weil es kein festes Wissen ums Vergangene und keinen hellen Vorblick in die Zukunft gibt. Das Tier hört auf den Namen und hat kein Selbst, es ist in sich eingeschlossen und doch preisgegeben, immer kommt ein neuer Zwang, keine Idee reicht über ihn hinaus. Für den Entzug des Trostes tauscht das Tier nicht Milderung der Angst ein, für das fehlende Bewußtsein von Glück nicht die Abwesenheit von Trauer und Schmerz. Damit Glück substantiell werde, dem Dasein den Tod verleihe, bedarf es identifizierender Erinnerung, beschwichtigender Erkenntnis, der religiösen oder philosophischen Idee, kurz des Begriffs. Es gibt glückliche Tiere, aber welch kurzen Atem hat dieses Glück! Die Dauer des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv. Um dem bohrend leeren Dasein zu entgehen, ist ein Widerstand notwendig, dessen Rückgrat die Sprache ist. Noch das stärkste Tier ist unendlich debil. Die Lehre Schopenhauers, nach welcher der Pendel des Lebens zwischen Schmerz und Langeweile schlägt, zwischen punkthaften Augenblicken gestillten Triebs und endloser Sucht, trifft zu für das Tier, das dem Verhängnis nicht durch Erkennen Einhalt gebieten kann. In der Tierseele sind die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur die organisierende Vernunft verleiht. Die besten Tage verfließen im geschäftigen Wechsel wie ein Traum, den ohnehin das Tier vom Wachen kaum zu unterscheiden weiß. Es entbehrt des klaren Ubergangs von Spiel zu Ernst; des glücklichen Erwachens aus dem Alpdruck zur Wirklichkeit.

In den Märchen der Nationen kehrt die Verwandlung von Menschen in Tiere als Strafe wieder. In einen Tierleib gebannt zu sein, gilt als Verdammnis. Kindern und Völkern ist die Vorstellung solcher Metamorphosen unmittelbar verständlich und vertraut. Auch der Glaube an die Seelenwanderung in den ältesten Kulturen erkennt die Tiergestalt als Strafe und Qual. Die stumme Wildheit im Blick des Tieres zeugt von demselben Grauen, das die Menschen in solcher Verwandlung fürchteten. Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat. Das Märchen spricht die Ahnung der Menschen aus. Wenn aber dem Prinzen dort die Vernunft geblieben war, so daß er zur gegebenen Zeit sein Leiden sagen und die Fee ihn erlösen konnte, so bannt Mangel an Vernunft das Tier auf ewig in seine Gestalt, es sei denn, daß der Mensch, der durch Vergangenes mit ihm eins ist, den erlösenden Spruch findet und durch ihn das steinerne Herz der Unendlichkeit am Ende der Zeiten erweicht.

Die Sorge ums vernunftlose Tier aber ist dem Vernünftigen müßig. Die westliche Zivilisation hat sie den Frauen überlassen. Diese haben keinen selbständigen Anteil an der Tüchtigkeit, aus welcher diese Zivilisation hervorging. Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben, muß wirken und streben. Die Frau ist nicht Subjekt. Sie produziert nicht, sondern pflegt die Produzierenden, ein lebendiges Denkmal längst entschwundener Zeiten der geschlossenen Hauswirtschaft. Ihr war die vom Mann erzwungene Arbeitsteilung wenig günstig. Sie wurde zur Verkörperung der biologischen Funktion, zum Bild der Natur, in deren Unterdrückung der Ruhmestitel dieser Zivilisation bestand. Grenzenlos Natur zu beherrschen, den Kosmos in ein unendliches Jagdgebiet zu verwandeln, war der Wunschtraum der Jahrtausende.

Darauf war die Idee des Menschen in der Männergesellschaft abgestimmt. Das war der Sinn der Vernunft, mit der er sich brüstete. Die Frau war kleiner und schwächer, zwischen ihr und dem Mann bestand ein Unterschied, den sie nicht überwinden konnte, ein von Natur gesetzter Unterschied, das Beschämendste, Erniedrigendste, was in der Männergesellschaft möglich ist. Wo Beherrschung der Natur das wahre Ziel ist, bleibt biologische Unterlegenheit das Stigma schlechthin, die von Natur geprägte Schwäche zur Gewalttat herausforderndes Mal. Die Kirche, die im Lauf der Geschichte kaum eine Gelegenheit versäumte, um bei populären Institutionen ihr führendes Wörtlein mitzureden, handelte es sich um Sklaverei, Kreuzzüge oder einfache Pogrome, hat trotz des Ave auch in der Einschätzung des Weibes an Platon sich angeschlossen. Das Bild der schmerzensreichen Mutter Gottes war die Konzession an matriarchale Restbestände. Doch hat die Kirche die Inferiorität der Frau, aus der das Bild erlösen sollte, mit seiner Hilfe auch sanktioniert. "Man braucht nur", ruft ihr legitimer Sohn de Maistre aus, 'in einem christlichen Land den Einfluß des göttlichen Gesetzes zu einem gewissen Grad auszulöschen, ja zu schwächen, indem man die Freiheit, die für die Frau daraus hervorging, bestehen läßt, und man wird die an sich edle und rührende Freiheit bald genug in Schamlosigkeit degenerieren sehen. Sie würden zu funesten Werkzeugen eines allgemeinen Niedergangs, der in kurzer Zeit die lebenswichtigen Teile des Staats angriffe. Dieser würde in Fäulnis übergehen und mit seinem brandigen Zerfall Schande und Schrecken verbreiten."(1) Das Terrormittel der Hexenprozesse, das die verbündeten feudalen Rackets, als sie sich in Gefahr sahen, gegen die Bevölkerung anwandten, war zugleich die Feier und Bestätigung des Siegs der Männerherrschaft über vorzeitliche matriarchale und mimetische Entwicklungsstufen. Die Autodafés waren die heidnischen Freudenfeuer der Kirche, der Triumph der Natur in Form der selbsterhaltenden Vernunft zum Ruhme der Herrschaft über die Natur.

Das Bürgertum heimste von der Frau Tugend und Sittsamkeit ein: als Reaktionsbildungen der matriarchalen Rebellion. Sie selbst erreichte für die ganze ausgebeutete Natur die Aufnahme in die Welt der Herrschaft, aber als gebrochene. Sie spiegelt, unterjocht, dem Sieger seinen Sieg in ihrer spontanen Unterwerfung wider: Niederlage als Hingabe, Verzweiflung als schöne Seele, das geschändete Herz als den liebenden Busen. Um den Preis der radikalen Lösung von der Praxis, um den des Rückzugs in gefeiten Bannkreis, empfängt Natur vom Herrn der Schöpfung seine Reverenz. Kunst, Sitte, sublime Liebe sind Masken der Natur, in denen sie verwandelt wiederkehrt und als ihr eigener Gegensatz zum Ausdruck wird. Durch ihre Masken gewinnt sie die Sprache; in ihrer Verzerrung erscheint ihr Wesen; Schönheit ist die Schlange, die die Wunde zeigt, wo einst der Stachel saß. Hinter der Bewunderung des Mannes für die Schönheit lauert jedoch stets das schallende Gelächter, der maßlose Hohn, die barbarische Zote des Potenten auf die Impotenz, mit denen er die geheime Angst betäubt, daß er der Impotenz, dem Tode, der Natur verfallen ist. Seit die verkrüppelten Narren, an deren Sprüngen und Schellenkappen einstmals das traurige Glück gebrochener Natur haftete, dem Dienst der Könige entronnen sind, hat man der Frau die planmäßige Pflege des Schönen zuerkannt. Die neuzeitliche Puritanerin nahm den Auftrag eifrig an. Sie identifizierte sich mit dem Geschehenen ganz und gar, nicht mit der wilden, sondern der domestizierten Natur. Was vom Fächeln, Singen und Tanzen der Sklavinnen Roms noch übrig war, wurde in Birmingham endgültig aufs Klavierspiel und andere Handarbeit reduziert, bis auch die allerletzten Restbestände weiblicher Zügellosigkeit vollends zu Wahrzeichen patriarchaler Zivilisation sich veredelt hatten. Unterm Druck der universalen Reklame wurden Puder und Lippenstift, ihren hetärischen Ursprung weit von sich weisend, zur Hautpflege, das Badetrikot zum Attribut der Hygiene. Es gibt kein Entrinnen. Der bloße Umstand, daß sie im durchorganisierten System der Herrschaft sich vollzieht, prägt auch der Liebe das Fabrikzeichen auf. In Deutschland beweisen die Erfaßten noch durch Promiskuität, wie einstmals nur durch Sittsamkeit, den Gehorsam gegen das Bestehende, durch den wahllosen Geschlechtsakt die stramme Unterordnung unter die herrschende Vernunft.

Als Fossil der bürgerlichen Hochschätzung der Frau ragt in die Gegenwart die Megäre herein. Keifend rächt sie seit endlosen Zeiten den Jammer, der ihr Geschlecht getroffen hat, im eignen Haus. In Ermangelung des Kniefalls, der ihr nicht zuteilward, herrscht auch außerhalb die böse Alte den Zerstreuten an, der nicht sogleich sich vor ihr erhebt, und schlägt ihm den Hut vom Kopf. Daß er rollen müsse, wie dem immer sei, hat sie in der Politik seit je gefordert, sei es aus Reminiszenz an die mänadische Vergangenheit, sei es in ohnmächtiger Wut den Mann und seine Ordnung überbietend. Der Blutdurst des Weibes im Pogrom überstrahlt den männlichen. Die unterdrückte Frau als Megäre hat die Epoche überlebt und zeigt die Fratze der verstümmelten Natur noch in einer Zeit, in der die Herrschaft schon den trainierten Körper beider Geschlechter modelliert, in dessen Uniformität die Fratze unterging. Auf dem Hintergrunde solcher Massenproduktion wird das Schelten der Megäre, die wenigstens ihr eigenes unterschiedenes Gesicht behielt, zum Zeichen der Humanität, die Häßlichkeit zur Spur des Geistes. Wenn das Mädchen in vergangenen Jahrhunderten ihre Unterwerfung in den wehmütigen Zügen und der hingebenden Liebe trug, ein entfremdetes Bild der Natur, ein ästhetisches Kulturding, so hat freilich die Megäre noch am Ende einen neuen weiblichen Beruf entdeckt. Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele aktiv. Ihr Ehrgeiz läuft nach Ehrungen und Publizität, aber ihr Sinn für männliche Kultur ist noch nicht so geschärft, daß bei dem ihr zugefügten Leid sie sich nicht vergriffe und zeigte, daß sie in der Zivilisation der Männer noch nicht heimisch ist. Die Einsame nimmt ihre Zuflucht zu Konglomeraten von Wissenschaft und Magie, zu Spottgeburten aus dem Ideal des Geheimrats und der nordischen Seherin. Sie fühlt sich zum Unheil hingezogen. Die letzte weibliche Opposition gegen den Geist der Männergesellschaft verkommt im Sumpf der kleinen Rackets, der Konventikel und Hobbies, sie wird zur pervertierten Aggression des social work und des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Wohltätigkeit und Christian Science. In diesem Sumpf drückt die Solidarität mit der Kreatur nicht so sehr im Tierschutzverein wie im Neubuddhismus und im Pekinesen sich aus, dessen entstelltes Gesicht heute noch wie auf den alten Bildern ans Antlitz jenes durch den Fortschritt überholten Narren gemahnt. Die Züge des Hündchens repräsentieren wie die ungelenken Sprünge des Höckers noch immer die verstümmelte Natur, während Massenindustrie und Massenkultur schon lernten, die Leiber der Zuchtstiere wie der Menschen nach wissenschaftlichen Methoden bereitzustellen. Die gleichgeschalteten Massen werden ihrer eigenen Transformation, an der sie doch krampfhaft mitwirken, so wenig mehr gewahr, daß sie deren symbolischer Schaustellung nicht mehr bedürfen. Unter den kleinen Nachrichten auf der zweiten und dritten Seite der Zeitungen, deren erste mit den grauenvollen Ruhmestaten der Menschen ausgefüllt ist, stehen zuweilen die Zirkusbrände und Vergiftungen der großen Tiere zu lesen. Es wird an die Tiere erinnert, wenn ihre letzten Exemplare, die Artgenossen des Narren aus dem Mittelalter, in unendlichen Qualen zugrunde gehen, als Kapitalverlust für den Besitzer, der die Treuen im Zeitalter des Betonbaus nicht feuersicher zu beschützen vermochte. Die große Giraffe und der weise Elefant sind "oddities", an denen sich schon kaum mehr ein gewitzigter Schuljunge verlustiert. Sie bilden in Afrika, der letzten Erde, die ihre armen Herden vor der Zivilisation vergeblich schützen wollte, ein Verkehrshindernis für die Landung der Bomber im neuesten Krieg. Sie werden ganz abgeschafft. Auf der vernünftig gewordenen Erde ist die Notwendigkeit der ästhetischen Spiegelung weggefallen. Entdämonisierung vollzieht sich durch unmittelbare Prägung der Menschen. Herrschaft bedarf keiner numinosen Bilder mehr, sie produziert sie industriell und geht durch sie um so zuverlässiger in die Menschen ein.

Die Verzerrung, die zum Wesen jedes Kunstwerks gehört, wie das Verstümmelte zum Glanz der weiblichen Schönheit, eben jene Schaustellung der Wunde, in der beherrschte Natur sich wiedererkennt, wird vom Faschismus wieder betrieben, aber nicht als Schein. Sie wird den Verdammten unmittelbar angetan. In dieser Gesellschaft gibt es keinen Bereich mehr, in dem Herrschaft als Widerspruch sich deklarierte wie in der Kunst, keine Verdoppelung drückt mehr die Entstellung aus. Solcher Ausdruck aber hieß ehemals nicht bloß Schönheit, sondern Denken, Geist und Sprache selbst. Sprache heute berechnet, bezeichnet, verrät, gibt den Mord ein, sie drückt nicht aus. Kulturindustrie hat ihren exakten Maßstab außerhalb ihrer selbst, an den sie sich halten kann, wie die Wissenschaft: die Tatsache. Filmstars sind Experten, ihre Leistungen Protokolle natürlichen Verhaltens, Klassifikationen von Reaktionsweisen; die Regisseure und Schreiber stellen Modelle für adaptiertes Verhalten her. Die Präzisionsarbeit der Kulturindustrie schließt die Verzerrung als den bloßen Fehler, den Zufall, das schlechte Subjektive und Natürliche aus. Der Abweichung wird der praktische Grund abverlangt, der sie in die Vernunft eingliedert. Erst dann wird ihr verziehen. Mit der Spiegelung der Herrschaft durch die Natur ist das Tragische entschwunden, wie das Komische, die Herren bringen soviel Ernst auf, wie Widerstand zu überwinden ist, und soviel Humor, wie sie Verzweiflung sehen. Der geistige Genuß war ans stellvertretende Leiden geknüpft, sie aber spielen mit dem Grauen selbst. Die sublime Liebe hing an der Erscheinung der Kraft durch die Schwäche, an der Schönheit der Frau, sie aber hängen sich an die Kraft unmittelbar: das Idol der Gesellschaft heute ist das schnittig-edle Männergesicht. Das Weib dient der Arbeit, dem Gebären, oder erhöht als präsentable das Ansehen ihres Mannes. Sie reißt den Mann nicht zum überschwang hin. Anbetung fällt wieder auf Eigenliebe zurück. Die Welt mit ihren Zwecken braucht den ganzen Mann. Keiner kann sich mehr verschenken, er muß drinnen bleiben. Natur aber gilt der Praxis als das, was draußen und drunten ist, als Gegenstand, wie im Volksmund schon seit je das Mädchen des Soldaten. Jetzt bleibt das Gefühl bei der auf sich als Macht bezogenen Macht. Der Mann streckt die Waffen vor dem Mann in seiner Kälte und finsteren lUnentwegtheit wie zuvor das Weib. Er wird zum Weib, das auf die Herrschaft blickt. Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft, es züchtet Homosexualität. Das Tier noch soll die edlen Züge tragen. Das prononcierte Menschengesicht, das beschämend an die eigne Herkunft aus Natur und die Verfallenheit an sie erinnert, fordert unwiderstehlich nur noch zum qualifizierten Totschlag auf. Die Judenkarikatur hat es seit je gewußt, und noch der Widerwille Goethes gegen die Affen wies auf die Grenzen seiner Humanität. Wenn Industriekönige und Faschistenführer Tiere um sich haben, sind es keine Pinscher sondern dänische Doggen und Löwenjunge. Sie sollen die Macht durch den Schrecken würzen, den sie einflößen. So blind steht der Koloß des faschistischen Schlächters vor der Natur, daß er ans Tier nur denkt, um Menschen durch es zu erniedrigen. Für ihn gilt wirklich, was Nietzsche Schopenhauer und Voltaire zu Unrecht vorwarf, daß sie ihren "Haß gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Tiere zu verkleiden wußten"(2). Voraussetzung der Tier-, Natur- und Kinderfrommheit des Faschisten ist der Wille zur Verfolgung. Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand hier kann vernichten. Sie tätschelt zärtlich das eine Opfer, bevor sie das andere niederschlägt, und ihre Wahl hat mit der eigenen Schuld des Opfers nichts zu tun. Die Liebkosung illustriert, daß alle vor der Macht dasselbe sind, daß sie kein eigenes Wesen haben. Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material. So nimmt der Führer der Unschuldigen sich an, sie werden ohne ihr Verdienst herausgegriffen, wie man sie ohne ihr Verdienst erschlägt. Dreck ist die Natur. Allein die abgefeimte Kraft, die überlebt, hat Recht. Sie selbst ist wiederum Natur allein, die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt. Es gibt kein Medium mehr, das diesen Widerspruch zum Ausdruck brächte. Er vollzieht sich mit dem sturen Ernst der Welt, aus der die Kunst, der Gedanke, die Negativität entschwunden ist. Die Menschen sind einander und der Natur so radikal entfremdet, daß sie nur noch wissen, wozu sie sich brauchen und was sie sich antun. Jeder ist ein Faktor, das Subjekt oder Objekt irgendeiner Praxis, etwas mit dem man rechnet oder nicht mehr rechnen muß.

In dieser vom Schein befreiten Welt, in der die Menschen nach Verlust der Reflexion wieder zu den klügsten Tieren wurden, die den Rest des Universums unterjochen, wenn sie sich nicht gerade selbst zerreißen, gilt aufs Tier zu achten nicht mehr bloß als sentimental, sondern als Verrat am Fortschritt. In guter reaktionärer Tradition hat Göring den Tierschutz mit dem Rassenhaß verbunden, die lutherisch-deutsche Lust am fröhlichen Morden mit der gentilen Fairness des Herrenjägers. Klar sind die Fronten geschieden; wer gegen Hearst und Göring kämpft, hält es mit Pawlow und Vivisektion, wer zögert, ist Freiwild für beide Seiten. Er soll Vernunft annehmen. Die Wahl ist vorgegeben und unausweichlich. Wer die Welt verändern will, soll um keinen Preis in jenem Sumpf der kleinen Rackets landen, wo mit den Wahrsagern auch politische Sektierer, Utopisten und Anarchisten verkommen. Der Intellektuelle, dessen Denken an keine wirkende historische Macht sich anschließe, keinen der Pole zur Orientierung nehme, auf welche die Industriegesellschaft zuläuft, verliere die Substanz, sein Denken werde bodenlos. Vernünftig sei das Wirkliche. Wer nicht mitmacht, sagen auch die Progressiven, hilft keiner Maus. Alles hänge von der Gesellschaft ab, auch das genaueste Denken müsse sich den mächtigen sozialen Tendenzen verschreiben, ohne die es zur Schrulle werde. Dies Einverständnis verbindet alle Gerechten der Realität; es bekennt sich zur menschlichen Gesellschaft als einem Massenracket in der Natur. Das Wort, das nicht die Ziele einer seiner Branchen verfolgt, regt sie zur maßlosen Wut auf. Es gemahnt daran, daß noch eine Stimme hat, was nur sein soll, damit es gebrochen wird: an Natur, von der die Lügen der völkisch und folkloristisch Orientierten überfließen. Wo sein Ton ihre Sprechchöre auf einen Augenblick unterbricht, wird das von ihnen überschrieene Grauen laut, das wie in jedem Tier selbst in den eignen rationalisierten und gebrochenen Herzen lebt. Die Tendenzen, die von solchem Wort ins Licht gehoben werden, sind allgegenwärtig und blind. Natur an sich ist weder gut, wie die alte, noch edel, wie die neue Romantik es will. Als Vorbild und Ziel bedeutet sie den Widergeist, die Lüge und Bestialität, erst als erkannte wird sie zum Drang des Daseins nach seinem Frieden, zu jenem Bewußtsein, das von Beginn an den unbeirrbaren Widerstand gegen Führer und Kollektiv begeistet hat. Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht die Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert wird.

Anmerkungen:
1 J. de Maistre, Eclaircissement sur les Sacrifices. OEuvres. Lyon 1892. Band V. S. 322 f.
2 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Werke. Band V. S. 133.

Max Horkheimer / Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Band 5, S.277f.

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Die Tierrechtsbewegung – Eine Analyse

von André Krebber

Jüngst haben die Vorfälle um die Auseinandersetzung über die „christliche Glaubensgemeinschaft Universelles Leben (UL)“ gezeigt, dass die Tierrechtsbewegung äußerst heterogen und gespalten auftritt. Dies soll als Anlass genommen werden, eine Analyse der „Szene“ vorzunehmen, um Probleme in den Strukturen und Arbeitsweisen zu thematisieren.

Problematisch sind die Organisationsformen bzw. die geringe Einbindung in Gruppen. Häufig scheint sich die Kommunikation auf Arbeitstreffen zu beschränken, die unregelmäßig oder bisweilen auch regelmäßig mit geringer Frequenz stattfinden. Bei dem hohen Aktionsdruck, der allgemein herrscht, ist hier jedoch kein Platz für inhaltliche Diskussionen, zumal diese voraussetzen, dass man sich in seinem Umfeld sicher fühlt. Trifft man jedoch nur alle ein bis zwei Monate zusammen, ist eine persönliche Bindung untereinander nur schwierig aufzubauen und Vertrauen kann nur in sehr begrenztem Rahmen erlangt werden. Der Inhalt solcher Treffen kann nicht über ein Absprechen von Demo-Terminen und Aktionsvorplanungen hinausgehen.

Sicherlich ist hier als Problem anzuführen, dass die personelle Stärke der Tierrechtsszene in den letzten Jahren abgenommen hat und ihren Teil zu dieser Desorganisierung beigetragen hat. Die Konsequenz hieraus sollte jedoch nicht so weit gehen, möglichst große und seltene Treffen abzuhalten. Besser wäre, den Radius zu verkleinern. Aktivisten können sich zu kleineren Gruppen zusammenschließen und sich regelmäßig treffen. Gleichzeitig kann nach wie vor ein großes regelmäßiges Treffen zur Vernetzung in größeren zeitlichen Abständen stattfinden.

Die Vorteile von Gruppenstrukturen sollen kurz erläutert werden. Zum einen kann man Gruppenneulingen die Zeit geben, die Tierrechtsarbeit und vor allem auch ihre Inhalte und Ziele kennen zu lernen, um entscheiden zu können, ob es Inhalte sind, mit denen sie sich identifizieren können. Feste Strukturen lassen es des weiteren nicht zu, dass Menschen, die mit den Tierrechtsgrundsätzen (1) nicht konform gehen, in der Bewegung Fuß fassen können und diese diskreditieren können. Zum anderen besteht die Möglichkeit, Spannungen oder Unklarheiten im eigenen politischen Denken mit anderen gemeinsam zu reflektieren und so Standpunkte zu klären oder zu festigen. Auf Massenveranstaltungen oder unregelmäßigen Arbeitstreffen bleibt hierfür kein Raum.

Neben strukturellen Problemen lässt sich aber auch eine auf breiter Ebene stattfindende Entpolitisierung der Tierrechtsarbeit feststellen, die eng mit den bereits aufgezeigten strukturellen Rahmenbedingungen zusammenhängt. Diese Entpolitisierung äußert sich in geringer theoretischer Auseinandersetzung bis hin zu regelrechter Intellektuellenfeindlichkeit. Das Hauptaugenmerk liegt auf einem breit angelegten Aktivismus, der die gesamte Energie aufzehrt. Die praktische Arbeit wird als einziger Maßstab für engagierte Tierrechtsarbeit akzeptiert. Dies soll natürlich kein Postulat gegen praktische Tierrechtsarbeit sein. Klar ist jedoch spätestens seit der ideologiekritischen Frankfurter Schule (2), dass für eine Veränderung eine umfassende Analyse der herrschenden Verhältnisse notwendig ist. Es gilt „den Prozess aufzuhalten, indem sie [die kritische Gesellschaftstheorie, d. Autor] ihn begreift“. (3)

Verhältnisse, Beziehungen und Herrschaftsformen sind Folgen eines historischen Prozess. Keinesfalls sind sie „natürliche Konstanten“, die in unveränderbarer Weise vorliegen und akzeptiert werden müssten. Moshe Zuckermann, israelischer Historiker und Philosoph, der in der Tradition Kritischer Theorie steht, streicht die Bedeutung der Bedürfnisse eines Kollektivs und ihre Beeinflussung des Erinnerten heraus. Hier ist die Kollektivebene des Gedächtnisses von Bedeutung. (4) In diesem kollektiven Gedächtnis werden Praktiken und Herrschaftsformen als gegeben erinnert, so wie es gerade den Bedürfnissen, aber auch wiederum dem gegenwärtig Erinnerten entspricht. „Das Bedürfnis hängt in großem Maße vom gegenwärtigen Geschehen ab, welches wiederum (teilweise) durch das vom Menschen Erinnerte und die konkreten Momente aktueller Erinnerung genährt wird.“ (5) Zuckermann betont, dass „das Gedächtnis eines Kollektivs in erheblichem Maße durch seine Geschichtsschreibung geformt wird. […] Je nach „Bedürfnis“, „neutralisiert“ es gleichsam die Ambivalenz, indem es die infolge immanenter Widersprüche des Gedächtnisses entstandene kognitive Dissonanz durch Auslöschung bestimmter Erinnerungsteile und pointierte „Hervorhebung“ anderer auflöst.“ (6) Wollen wir heutige Bedürfnisse verändern (das Bedürfnis nach Fleischkonsum, nach Zirkus, usw.) müssen wir diese zunächst ergründen und kommen somit auch nicht ohne eine geschichtliche und soziologische Betrachtungsweise aus.

Bestrebungen, sich mit diesen Aspekten des demnach gewachsenen Mensch-Tier Verhältnisses auseinanderzusetzen, lassen sich in der Tierrechtsbewegung leider nur vereinzelt finden. Selbstreflexion (7) ist allerdings eine unabdingbare Vorraussetzung für die Veränderung von Unrechtsverhältnissen. „Da in einer herrschaftlich-warenförmig organisierten Gesellschaft die Bedingungen, nach denen sie funktioniert, zwar von Menschen geschaffen sind und sich von Menschen ändern ließen, aber als natürlich und notwendig erscheinen, ist für eine Moralphilosophie die Reflexion des gesellschaftlichen Bannes erforderlich.“ (8) “Indem sie [die Wissenschaften, d. Autor] das Faktische zur Norm erheben, werde den gesellschaftlichen Individuen abermals die durch die Aufklärung überwunden geglaubte Idee der Unabänderlichkeit und Schicksalhaftigkeit bestehender sozialer Verhältnisse und Prozesse suggeriert.“ (9) Die theoretische Seite des Verhältnisses von Mensch und Tier und die daraus erwachsene Situation tierlicher Individuen in der vom Mensch definierten Realität steht jedoch bisher nicht im Zentrum des Interesses der Tierrechtsbewegung. Adorno und Horkheimer haben ausführlich dargestellt, dass eine permanente Selbstreflexion kritischer Soziologie und Sozialphilosophie diese „Hypostatisierung des Logos als der Wirklichkeit“ (10) verhindern will.

„Blinder Aktivismus“, wie ich ihn etwas überspitzt nennen möchte, konzentriert sich lediglich darauf, das Tierleid ins Bewusstsein zu rücken, auf die Qualen der Tiere aufmerksam zu machen. Das ist natürlich eine wichtige Ebene der Tierbefreiung. Das Leid muss in die öffentlichkeit gebracht und die hässliche Seite des vermeintlichen Genusses auf Kosten der Tiere thematisiert werden. Jedoch ergreift diese Arbeit noch nicht den Ursprung, den Kern des verrohten Verhältnisses der uneingeschränkten, ja sogar unhinterfragten Beherrschung des Tieres durch den Menschen. Sie greift vereinzelte Aspekte des Spektrums heraus, um eine kurzfristige, manchmal vielleicht auch eine etwas dauerhaftere Veränderung in gewissen Bereichen zu erwirken. Primär findet jedoch lediglich eine Bearbeitung von Phänomenen statt. Ohne ein gleichzeitiges Erkennen und Verstehen der Mechanismen, auf denen die Herrschaft basiert und aus denen das Tier ganz selbstverständlich zur Ware erklärt und damit zum „Verbrauch“ freigegeben wird, bleibt diese Arbeit für eine Umwälzung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen jedoch folgenlos. Die praktische Arbeit erfasst nicht die Herkunft des Herrschaftsdenkens, sie zeigt noch nicht einmal auf, dass hier eine selbstverständliche Verdinglichung des Lebewesens in den Köpfen geschieht.

Gleichzeitig resultiert aus der Tatsache mangelnder theoretischer Auseinandersetzung eine weitere Schwäche: Die Tierrechtsbewegung verkommt zu einer charakterlosen und für jedermann zugänglichen Bewegung, die kaum mehr politische Inhalte vertritt. Es fehlen klare, ausgearbeitete Ziele, wo die Tierrechtsbewegung hinführen soll. Die faktisch leidenden Tiere offenbaren sich als Phänomen der herrschenden Verhältnisse, die ihnen das Leid aufzwingen.
Unter dem Dach des Tierrechts tummeln sich mittlerweile die verschiedensten Positionen und Meinungen, die mit dem eigentlichen Gedanken nicht mehr viel gemein haben (vgl. UL-Diskussion, Biofleisch-Propaganda auf Demos, etc.). Es kommt zu einer Vermischung widersprüchlicher Positionen. Meinungen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen, stehen Seite an Seite, inhaltliche Spannungen werden ausgeblendet oder im Privaten verortet. Natürlich müssen Interpretationsfreiräume bezüglich der Inhalte gegeben sein und eine Fortentwicklung tierrechtlerischer Ideen und Grundsätze möglich bleiben. Sie ist sogar Vorraussetzung für die flexible Anpassung an die sich ständig wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Inhaltliche Spannungen werden jedoch ausgeblendet und zur Privatsache erklärt. Es kann keineswegs jedem selbst überlassen werden, was für Standpunkte er z.B. auf Demonstrationen vertritt. Hier kann es schnell zu einer Diskreditierung der gesamten Bewegung kommen bzw. Meinungen generalisiert werden, die alles andere als „tierrechtlerisch“ sind. Eine Bewegung muss deutlich machen, wo und wofür sie steht.

Ursache für die breite öffnung, die durchaus auch aktiv betrieben wird, scheint der verzweifelte Versuch, Unterstützer zu rekrutieren. Um den Aktionismus hochzuhalten, bedarf es vieler Menschen. Das Potential an mitfühlenden Bürgern, die sich im Tierschutz engagieren, ist riesig im Vergleich zu dem, was die Tierrechtsbewegung selber mitbringt. Die Ziele decken sich jedoch kaum mit denen, die von Tierrechtlern verfolgt werden; sie stehen häufig sogar im Widerspruch mit ihnen. Es geht dem Tierschutz nicht um eine Befreiung der Tiere aus der menschlichen Herrschaft. Lediglich die Lebensumstände sollen verbessert werden und so die menschliche Weste rein gewaschen werden, bei maximalem weiterem Nutzen aus den Tieren. (11) Um aber starke Präsenz zeigen zu können und eine vermeintlich große Bewegung, die Gehör findet, aufzubauen, werden diese Spannungen und Gegensätze nicht thematisiert. Diese Tatsache sorgt allerdings dafür, dass sich die Bewegung noch angreifbarer macht für ihre Feinde.
Wie soll sich der Ruf nach Befreiung der unterdrückten Lebewesen Gehör verschaffen, wenn er aus einer wabernden Masse kommt, die heute dieses und morgen jenes vertritt und den Umgang mit zentralen tierrechtlerischen Kritik- und Argumentationspunkten als Privatsache und persönliche Ermessensfrage abtut?

Es werden Ideen entwickelt und Moralgebäude zur Rechtfertigung der Tierbefreiungsarbeit aufgestellt und vertreten, die dann auf der persönlichen Ebene ihre Gültigkeit verlieren. Hier geschieht ein Bruch zwischen der gesellschaftlichen und der individuellen Ebene der Tierbefreiungsarbeit. Ganz zu schweigen von der Problematik, dass in diesem Zuge vereinzelt auch ganz andere diskriminierende Meinungen vertreten werden, die nicht zu tolerieren sind, zum Beispiel Antisemitismus oder Homophobie.

Die Befreiung der Tiere von der Unterdrückung war die Intention, mit der sich die Tierrechtsbewegung von der Tierschutzbewegung abgespalten hat. Um eine möglichst große Masse für die Sache zu gewinnen, wird heute auf qualitative Unterschiede wenig Wert gelegt bzw. werden Positionen zur reinen Privatsache erklärt. Das eigentliche Thema, die Befreiung der Tiere von der Herrschaft, wird hierbei zweitrangig.

Tierschutzpositionen verfestigen den Status der Tiere als dem Menschen untergeordnete Wesen in unserer Gesellschaft lediglich und arbeiten demnach dem Ziel der Befreiung tierlicher Individuen aus der Herrschaft entgegen. Das Thema der Tierbefreiung erweckt weniger Aufmerksamkeit, da ja (vermeintlich) bereits Einiges für eine Verbesserung der Lebensumstände geschehen ist. Das Bewusstsein bleibt in seinem Herrschaftsdenken verhaftet.

Was Herbert Marcuse über die Befreiung des Menschen sagt, hat ebenso Gültigkeit für die Befreiung der Tiere. „Um was sie [die Solidarität, d. Autor] kämpft, ist zunächst nur das Interesse einer besonderen gesellschaftlichen Gruppe an besseren, menschenwürdigeren Lebensbedingungen. Aber dies besondere Interesse kann nicht verfolgt werden, ohne die Lebensbedingungen des Ganzen besser und menschenwürdiger zu machen und die Allgemeinheit zu befreien.“ (12)

Als abschließende Forderung kann daher nur stehen bleiben, dass neben einer umfangreichen praktischen Arbeit zur direkten Bekämpfung des Tierleids und zur Sensibilisierung für die lebensverachtenden Verhältnisse, unter denen Tiere existieren müssen, eine tiefgehende Analyse der Mechanismen steht, die Grundvorrausetzungen für die Herrschaft sind. So werden auch die Ziele wieder deutlich werden.

(1) Diese Tierrechtsgrundsätze sind nicht klar definiert, ein Problem an dem die Tierrechtsbewegung krankt und auf das später noch eingegangen wird. Gemeint sind hier also Personen, die diesen wieder zu definierenden Tierrechtsgrundsätzen (teilweise) nicht zustimmen, sich aber dennoch mit der Bewegung assoziieren.
(2) Die Frankfurter Schule war ein Kreis aus Philosophen, Soziologen und Politologen, die eine Gegenwartsdiagnose des fortgeschrittenen Kapitalismus erarbeiteten. Sie versucht, die Gesellschaftstheorie von Karl Marx philosophisch, historisch und psychoanalytisch neu zu interpretieren. Die bekanntesten Vertreter der Kritischen Theorie sind Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse.
(3) Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1973): Soziologie und Philosophie. Zitiert nach: Mütherich, Birgit (2000): Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule. Münster, S. 145.
(4) Auch wenn dies hier separat beschrieben wird, kann es nie ohne die individuelle Ebene gedacht werden. Beide sind eng miteinander verflochten. Vgl. hierzu auch Haug, Frigga: Erinnerungsarbeit.
(5) Zuckermann, Moshe (1999): Zweierlei Holocaust. Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels und Deutschlands. Göttingen, S. 11.
(6) Ebd., S. 9.
(7) Selbstreflexion meint hier die Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse, die jedoch starken Niederschlag in individuellen Persönlichkeitsstrukturen finden. Vgl. hierzu.
(8) Haker, Carsten (1999): Das Mensch-Tier-Verhältnis in der kritischen Theorie Adornos und Horkheimers. In: Tierrechts-Aktion-Nord (Hg.): „Leiden beredt werden zu lassen, ist die Bedingung aller Wahrheit“. Hamburg, S. 54-78. S. 68.
(9) Mütherich, Birgit (2000): Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule. Münster, S. 143.
(10) Horkheimer, Max (1992): Traditionelle und kritische Theorie. Zitiert nach: Mütherich, Birgit (2000): Die Problematik der Mensch-Tier-Beziehung in der Soziologie: Weber, Marx und die Frankfurter Schule. Münster, S. 143.
(11) vgl. hierzu Rogausch, Günther (2002): Voice of the Voiceless?! – Engagement “für Tiere” zwischen Solidarität und Paternalismus. In: Tierrechts-Aktion-Nord (Hg.): „My brothers Keeper“ – Zur Tierrechtsbewegung - Meinungen, Gedanken, Erfahrungen. Hamburg, S. 8-41.
(12) Marcuse, Herbert (1965): Zur Kritik des Hedonismus. In: Marcuse, Herbert: Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt a. Main, S. 128-168. S. 164.

Quelle: www.tierrechts-aktion-nord.de

   Tierrechts-Kongress der TAN Hamburg 2006

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Mensch-Tier-Vergleiche und die Skandalisierung von Gewalt

von Michael Fischer

(1) Noch bis ins 18. Jahrhundert kam es vor, dass Tieren, die Menschen verletzt oder getötet hatten, ein ordentlicher Prozess gemacht wurde, der üblicherweise mit einem Todesurteil endete. Oft waren es Schweine, die für die Tötung von Kindern bei lebendigem Leibe verbrannt, gesteinigt oder gehängt wurden. An Fällen, in denen die tierlichen Mörder mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurden, wird die Symbolik der Strafe besonders deutlich: Die Tötung eines Menschen durch ein Tier stellte einen Bruch der gottgegebenen Hierarchie der Lebewesen dar, die nur durch eine Umkehrung wiederhergestellt werden konnte. Die Moderne, kritischer gegenüber der Selbstverständlichkeit von Hierarchien und ärmer an moralischen Gewissheiten, ist sich doch in diesem Punkt sehr sicher geblieben: Die Tötung von Tieren durch Menschen ist ein natürlicher Vorgang, die Tötung von Menschen durch Tiere ein bestialischer. Die Umkehrung von Tötenden und zu Tötenden verletzt eine tief verankerte moralische Ordnung, und so empört die tragische Tötung eines Kindes durch einen Hund das Kollektivbewusstsein mehr als mancher andere gewaltsame Tod. Von entsprechender Heftigkeit ist die gesellschaftliche Reaktion: Da wir an die Abschreckung tierlicher Täter durch die Hinrichtung ihrer Artgenossen nicht mehr glauben, wird die präventive "Ausrottung" ganzer Rassen von als gefährlich geltenden Hunden propagiert und die "Todesspritze für Killer-Maschinen" (BILD 29.6.00) gefordert. Wenn Kampfhunde-Halter dies als "Rassenwahnsinn" zu skandalisieren versuchen, reagieren Beobachter oft mit Unverständnis – der Vergleich menschlicher Opfer mit Tieren scheint diese zu "vermenschlichen" und jene zu entwürdigen.

(2) Die rigide moralische Grenze zwischen Menschen und Tieren, die als Kernbestand westlicher Anthropologie von der Antike bis heute erhalten blieb, konstituiert sich durch die Etablierung von Zonen divergierender Legitimationsbedürftigkeit von Gewalt. Während Tiere in weitgehender Beliebigkeit z.B. getötet werden dürfen (die "guten Gründe", die das Tierschutzgesetz verlangt, werden jährlich in Millionen von Fällen pauschal zugestanden), muss die Tötung von Menschen weitaus besser begründet werden, um soziale Akzeptanz zu erlangen. Die großen Abstände in der Legitimationsbedürftigkeit von Gewalt transformieren den im Grunde graduellen Unterschied in einen qualitativen, dem die Vorstellung naturgegebener Lebenswerthierarchien sowie institutionalisierte Formen der Gewalt gegen Tiere korrespondieren. Mensch-Tier-Vergleiche sind daher geeignete Mittel zur Skandalisierung von Gewalt - der Gewalt gegen Menschen durch den Hinweis auf eine üblicherweise Tieren vorbehaltene Behandlung, und der Gewalt gegen Tiere durch den Vergleich ihres Schicksals mit dem menschlicher Opfer.

(3) "Wie ein Tier" behandelt zu werden, ist eine Metapher für maximale Opferwerdung, die auf die moralisch indifferente Haltung gegenüber dem Opfer, auf die Formen der Misshandlung oder auf den Umgang mit einer Leiche Bezug nehmen kann. Das Schicksal der Opfer nationalsozialistischer Gewaltverbrechen wurde oft mit diesem Vergleich beschrieben. So berichtet etwa ein überlebender, dass die Häftlinge an den Rampen von Auschwitz "wie Tiere" zusammengepfercht waren (FR 9.3.99); ein ehemaliger Zwangsarbeiter beklagt, dass seine Familie umgebracht wurde "wie Tiere, die niemand haben will" (FR 2.7.98). Das Thema der tieranalogen Behandlung kulminiert im Topos des Kannibalismus, der die Grenzüberschreitung im Umgang mit toten Körpern zum Gegenstand des Skandals macht. Die Erfindung kannibalischer, unzivilisierter Völker zur Rechtfertigung des Kolonialismus instrumentalisierte das starke Tabu, menschliche Körperteile wie tierliche zu verarbeiten und zu verzehren. Auch in der Wahrnehmung von Serienkillern, Sinnbildern der schlimmsten privaten Verbrechen, ist stets die Jäger-, Schlachter- und Metzger-Metaphorik von zentraler Bedeutung. über Fritz Haarmann etwa, den Serienmörder im Hannover der 20er Jahre, kursierte das Gerücht, er habe seine Opfer zu Würsten verarbeitet und einen regelrechten Fleischhandel betrieben - bis heute erinnern sich manche des Liedchens: "Warte, warte nur ein Weilchen / dann kommt Haarmann auch zu dir / mit dem kleinen Hackebeilchen / Und macht Hackefleisch aus dir". Mehr noch als die Akte des Tötens war die vermeintliche überschreitung der Mensch-Tier-Grenze Anlass zu zeitgenössischer Empörung und nachhaltiger Erinnerung.

(4) Eine andere Form der Skandalisierung ist der Topos der Besserstellung von Tieren, der sich regelmäßig z.B. in der Debatte über Kindesmisshandlungen findet. Deutschland, so hören wir, sei "ein gutes Tierschutzland, aber kein Kinderschutzland" (Pfeiffer, zit. nach TAZ 12./13.02.00) und in England seien die Tierschutzgesetze lange Zeit strenger gewesen als die des Kinderschutzes (ZEIT 29/00). Solche Vergleiche sagen wenig über die realen Verhältnisse der Nachkriegszeit (in Deutschland wie in England wurden und werden Tiere massenhaft legal ihrer Freiheit beraubt und getötet, nicht aber Menschenkinder), aber viel über die zugrundeliegende radikale moralische Differenzierung aus: Was als Tierschutz bezeichnet wird – etwa die Betäubung vor der Tötung –, gilt unter Menschen als Mord. Das Thema der Besserstellung von Tieren appelliert an Wertehierarchien, die es einfordert und verfestigt: Argumentativ entscheidend ist nicht, dass Kinder misshandelt werden, sondern dass eine moralische Ordnung durch die erfundene Besserstellung Minderwertiger aus den Fugen gerät.

(5) Während Mensch-Tier-Vergleiche, die die Misshandlung von Menschen skandalisieren, auf der strikten moralischen Mensch-Tier-Grenze aufbauen, ihre Einhaltung einklagen, und sie somit stabilisieren können, stellen Vergleiche, die Gewalt gegen Tiere thematisieren, die Grenzziehung selbst (mindestens in ihrem Ausmaß) in Frage. Dies wird zumeist solange als relativ unproblematisch hingenommen, wie das Schicksal von Tieren mit dem von Menschen ganz allgemein verglichen wird. So etwa wenn Nietzsche die moralische Exklusion von Tieren auf schlechte, nämlich bloß opportunistische Gründe zurückführt: "Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden nicht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit" (Menschliches, Allzumenschliches II), oder wenn Kundera, ein Schopenhauersches Thema aufgreifend, seine Romanfigur sagen lässt: "Glaubst du etwa, eine Hirschkuh packte im Rachen eines Tigers ein kleineres Entsetzen als dich, wenn du darin wärst? Die Menschen haben sich ausgedacht, daß ein Tier nicht die gleiche Leidensfähigkeit hat wie der Mensch, weil sie sonst den Gedanken nicht ertragen könnten, von einer Natur umgeben zu sein, die Grauen und nichts als Grauen ist." (Die Unsterblichkeit)

(6) Solche Vergleiche aber, die tierliches Leid mit dem konkreter menschlicher Opfergruppen in Zusammenhang bringen, geraten oft in den Verdacht der antihumanistischen Entwürdigung des Menschen. Der tierrechtsphilosophische Begriff des "Speziesismus" soll, in direkter Analogie zu Rassismus und Sexismus, darauf hinweisen, dass Tiere auf der Basis eines willkürlichen, weil moralisch irrelevanten Kriteriums – der Artzugehörigkeit – diskriminiert würden. So wenig wie Hautfarbe oder Geschlecht ein Grund für moralischen Ausschluss sein können, so wenig könnten Körperbehaarung oder die Zahl der Beine entscheidend sein. Besonders der umstrittene Moralphilosoph Peter Singer greift dabei zur Veranschaulichung auf das sogenannte Marginal Case-Argument zurück: Um die moralische Irrelevanz empirischer Unterschiede (besonders der geistigen Fähigkeiten) zwischen Menschen und Tieren aufzuweisen, vergleicht er Tiere mit schwer geistig behinderten Menschen. Wenn wir uns trotz vergleichbarer (oder höherer) mentaler Kapazitäten der Tiere für das Lebensrecht von Menschen und gegen das Lebensrecht von Tieren aussprechen, so sein Argument, erweist es sich, dass wir im Grunde willkürlich entlang der Gattungsgrenze differenzieren – der empirische Grenzverlauf ist zu unscharf, um einer strikten moralischen Grenze als Fundament zu dienen (Animal Liberation). Vom Guten, das noch stets das Böse schafft? Singer belässt es nicht bei der Aufwertung tierlicher Interessen, sondern rüttelt an der Heiligkeit des menschlichen Lebens: Wenn wir erst erkannt hätten, so sagt er, dass der Gattung Mensch anzugehören nicht genug sei, um eine Tötung in jedem Fall falsch erscheinen zu lassen, müssten wir die bedingungslose Erhaltung menschlicher Leben neu überdenken. Obgleich der Zusammenhang zwischen der moralischen Aufwertung von Tieren und der Abwertung menschlichen Lebens keine theoretische Notwendigkeit darstellt, hat doch die in Singer personifizierte Vermischung von Tierbefreiungs- und Euthanasie-Debatte den Verdacht genährt, die Infragestellung der moralischen Mensch-Tier-Grenze könnte für Menschen gefährliche Konsequenzen haben.

(7) Ein auch unter radikalen Tierschützern umstrittener Vergleich, der die Zustände in der Massentierhaltung skandalisieren soll, ist die Rede von den "Tier-KZs". Es ist dieses Thema, das jetzt, in abgewandelter Form, von einigen Kampfhunde-Liebhabern aufgegriffen wurde, um ihre Hunde vor der präventiven Tötung zu bewahren. In der ZEIT (31/00) lesen wir: "Aus Protest heften etliche Halter deshalb ihren Hunden Judensterne an, schwenken bei gutbesuchten Demonstrationen Plakate mit der Aufschrift "Rassenwahnsinn" und setzen die Tötung von Kampfhunden mit dem Holocaust gleich. Die sentimental-vermenschlichenden Pro-Hunde-Argumente, die sie vortragen, mögen einen lediglich befremden (...). Die wahnwitzige Verdrehung der Kategorien aber, die aus dem Vergleich von Hunden mit Naziopfern spricht, ist Anlass für eine tiefergehende Bestürzung." Der Holocaust-Vergleich ist in vielen Hinsichten inhaltlich falsch. Besonders verkennt er, dass, im Unterschied zu der rassistischen Wahnvorstellungen entspringenden Gefährlichkeit der Juden, Kampfhunde in der Tat potenziell lebensgefährlich sind; dass die Prävention der Gefährdung durch Hunde nichts mit der nationalsozialistischen Rassenreinheitslehre zu tun hat; und dass die systematische Entwürdigung, Folter und Misshandlung der Juden in Ausmaß und Beliebigkeit weit über das hinausging, was uns das Tierschutzgesetz heute mit Hunden zu tun erlaubte. Indes: Allzu oft verbirgt sich hinter dem Vorwurf "sentimentaler Vermenschlichung" nur die begründungsfreie Weigerung, Tieren moralisch zu berücksichtigende Interessen zuzugestehen. Und die Empfindung einer wahnwitzigen, tief bestürzenden Verdrehung von Kategorien, deren richtige Ordnung aber nicht diskutiert wird, ist kennzeichnend für das Tabu, das selbstverständliche moralische Ordnungen vor Kritik bewahrt. Bei allen Unterschieden hinsichtlich des Realitätsgehalts der unterstellten Gefährdung, der ideologischen Begründung der Tötungen und den konkreten Strukturen und Formen der Machtausübung: Eine präventive Vernichtung qua biologischer Disponiertheit gefährlicher Individuen (wie auch die Selektion der zu Tötenden durch einen Charaktertest), das Programm der "Ausrottung" bedrohlicher Rassen durch Kastration und "Tötung aller noch anfallenden Welpen" (FAZ 28.6.00), die Diskreditierung von Kritik als fast pathologische Sentimentalität (ebd.), der Abbau von Tötungshemmungen und die Zelebration der Todesspritze – all dies sind Formen der Wahrnehmung von und des Umgangs mit gesellschaftlichen Risiken, die an nationalsozialistische Theorie und Praxis erinnern. Die Leichtigkeit und die Rigidität, mit der ein solches Denken die öffentliche Diskussion bestimmen kann, finden ihren Grund in der Idee biologisch determinierter Lebenswerthierarchien, deren Legitimität als unhinterfragbar naturgegebene erlebt wird.

(8) Während die Idee einer kosmologischen Wertungleichheit aus dem Bereich der menschlichen Gesellschaft seit der Aufklärung sukzessive - mit mehr oder weniger Erfolg - verbannt wurde, setzt sie an der Grenze zu anderen Tieren so strikt ein wie ehedem. Die Gleichzeitigkeit der Postulate der Gleichheit aller Menschen (ungeachtet empirischer Unterschiede) und der Ungleichheit aller anderen Tiere (ungeachtet empirischer Gemeinsamkeiten) resultieren in einer paradoxen moralischen Haltung, die, je nach Anwendungsfall, Lebenswerthierarchien verpönt oder voraussetzt. Die fragwürdige Logik dieser Konstruktion findet Ausdruck in einem gespaltenen Verhältnis zu Mensch-Tier-Vergleichen, die Analogien in der Logik der Exklusion von Menschen und Tieren oder ähnlichkeiten in deren Behandlung behaupten: Sie sind gängig und pc, wenn sie der Skandalisierung von Gewalt gegen Menschen dienen, lösen jedoch Irritationen oder gar Empörung aus, wenn Gewalt gegen Tiere durch den Vergleich mit konkreten menschlichen Gewaltopfern skandalisiert werden soll.

(9) Wo der Grund dieser Empörung nicht nur in der Verteidigung unreflektierter Konstruktionen eigener Superiorität, sondern in der Angst vor einer möglicherweise gefährlichen Abwertung des Menschen zu suchen ist, ist sie durchaus ernst zu nehmen. Dass aber – ganz abgesehen von dem Leid, das sie für Tiere bedeutet - die Aufrechterhaltung einer strikten moralischen Mensch-Tier-Grenze für uns von Vorteil ist, muss bezweifelt werden. Das Nebeneinander von Tötungsverbot und Tötungserlaubnis ist eine in ihren tiefgreifenden Konsequenzen prekäre ideologische Konstruktion, die in der Empörung über Gewalt ebenso Anwendung findet wie in ihrer Rechtfertigung. Als strukturelle Schablone für die Neutralisierung von Gewalt wird die weitgehend unreflektierte Einteilung der Lebewesen in solche, die wir töten und solche, die wir nicht töten dürfen, regelmäßig auch Menschen zum Verhängnis - wo "Vermenschlichung" nichts weiter meint, als das Zugeständnis elementarer Rechte, ist stets auch Entmenschlichung als Strategie der Entrechtung möglich. "Vielleicht", so schrieb Adorno, "ist der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt – "es ist ja bloß ein Tier" -, wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten an Menschen, in denen die Täter das "Nur ein Tier" immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten." (Minima Moralia) Selbst im Hinblick auf tierliche "Täter" mag unsere Gleichgültigkeit gegenüber der Gewalt gegen Tiere zuweilen die Wirkung einer Wiederholung von Grausamkeiten am Menschen entfalten: Vielleicht hätte der Tod des Hamburger Jungen verhindert werden können, wenn unsere Gesellschaft auf die vorausgehenden Hundekämpfe nicht mit solcher Nonchalance reagiert hätte – aber da waren die Opfer ja bloß Tiere.

Quelle: www.tierrechts-aktion-nord.de



Versuch einer Kritischen Theorie über das Mensch–Tier–Verhältnis

von Patrick Pilarek

 

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno gestiftete Kritische Theorie auf jene Aspekte hin zu untersuchen, die für eine grundlegende Kritik des Mensch – Tier – Verhältnisses, wie es sich im Spätkapitalismus darstellt, fruchtbar zu machen sind. Von einem Versuch zu sprechen ist deshalb gerechtfertigt, weil dieser Text nicht den Anspruch erheben kann, alle in diesem Rahmen relevanten Aspekte und Gedankengänge, die aus den Werken Horkheimers und Adornos zu gewinnen wären, angemessen und erschöpfend zu erfassen. Auch die Tatsache, dass die Kritische Theorie von den ersten Aufsätzen Horkheimers in den frühen 30er Jahren bis zu Adornos Negativer Dialektik von 1966 gravierende Veränderungen erfahren hat, (wie es bei einer materialistischen Theorie, die nicht abgehoben über den Verhältnissen schwebt, die sie kritisiert, auch anders nicht sein könnte) könnte und müsste in noch höherem Maße berücksichtigt werden.
Von einem Anfang könnte gleichfalls die Rede sein, denn es müsste noch wesentlich tiefer in diese leider meist vernachlässigte Materie eingestiegen werden. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Schriften der beiden hier diskutierten Autoren einen großen Reichtum an Ideen und Gedanken bergen, der an dieser Stelle unaufgedeckt bleibt. In diesem Sinne versteht sich dieser Text auch als Plädoyer, die aufgeworfenen Ansätze weiterzuverfolgen und die gewinnbringenden Anregungen, die die Kritische Theorie auch und gerade für das Thema Tierbefreiung bietet, aufzugreifen.

I. Zum Geleit

„Die Geschichte der Anstrengungen des Menschen, die Natur zu unterjochen, ist auch die Geschichte der Unterjochung des Menschen durch den Menschen.“1

Stellvertretend für ein zentrales Anliegen der Kritischen Theorie, geprägt vor allem von den katastrophalen Erfahrungen des Vernichtungskrieges und der Shoa, kann dieses Zitat Max Horkheimers stehen: die Auseinandersetzung mit dem Paradoxon des bürgerlichen Menschen, der über ein nie gekanntes Maß an produktivem Potential verfügt, den von ihm geschaffenen sozialen Verhältnissen jedoch ohnmächtig gegenüber steht.
Entsprechend verfolgen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem gemeinsam verfassten zentralen Werk, der Dialektik der Aufklärung, das Ziel, die Diagnose einer verfehlten und misslungenen Überwindung mythischer Ursprünge der Vernunft anzustellen: „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“.2
Ein Begriff, der in den Schriften Horkheimers, Adornos und weiterer Autoren der Kritischen Theorie immer wieder auftaucht, ist der der „Naturbeherrschung“. Darüber hinaus fallen die reichhaltige Tiermetaphorik und die Kritik am herrschaftlichen Mensch – Tier – Verhältnis in zahlreichen Passagen exponierter Werke der Kritischen Theorie auf. Nichtsdestotrotz ist dieser Aspekt bei der Rezeption Horkheimers und Adornos bisher nur äußerst marginal behandelt worden. Anders herum kann festgestellt werden, dass die Auseinandersetzung mit Tierrechten/Tierbefreiung meist vonstatten geht, ohne den bereichernden Blickwinkel der Kritischen Theorie auf diese Thematik zu berücksichtigen.
Im Folgenden werden mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die zwei herausragenden Protagonisten der Kritischen Theorie im Hinblick auf das von ihnen kritisierte Mensch – Tier – Verhältnis behandelt.
Zunächst sollen knapp die Grundzüge der Kritischen Theorie bei Horkheimer und Adorno erläutert werden, um den Kontext darstellen zu können, in dem sich die Kritik am Mensch – Tier – Verhältnis abspielt.3 Die Darstellung, die sich vor allem an der Analyse der dialektischen Entwicklung des rationalen Denkens, an der fortschreitenden Naturbeherrschung und an der gesellschaftlichen Verdrängungsleistung gegen die „Natur im Subjekt“ orientiert, verweist bereits auf das Hauptinteresse dieses Textes.
Anschließend werden Passagen und Aphorismen diskutiert, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Versuch liegt, das Denken Horkheimers und Adornos für eine Kritik am bestehenden Mensch – Tier – Verhältnis fruchtbar zu machen. In einem kurzen Exkurs soll an dieser Stelle aufgezeigt werden, auf welchen Zugang zu Tieren und auf welche intellektuelle Abwehrhaltung gegen von Mitleid für die Kreatur geprägtes Handeln Horkheimer und Adorno sich kritisch beziehen.4
Darüber hinaus wird das schwierige Thema des utopischen Gehaltes der Kritischen Theorie angerissen, der um vage Begriffe wie „Versöhnung mit der Natur“ und „ewiger Frieden“ angesiedelt ist. Kann in diesem Zusammenhang davon die Rede sein, dass dem Mensch – Tier – Verhältnis eine wichtige Rolle auf dem Weg zur Versöhnung zukommt? Liegt dieser Vorstellung ein romantisierendes Naturverständnis zugrunde, oder, um mit den Worten Max Horkheimers zu fragen: “Ist es möglich, den Konflikt durch ein `Zurück zur Natur` […] aufzuheben?“5


II. Grundzüge der Kritischen Theorie

Die Erkennungsmarke „Kritische Theorie der Gesellschaft“ taucht erstmals in Horkheimers 1937 veröffentlichtem Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“ auf und setzt sich gegenüber Bezeichnungen wie „materialistische Theorie“ durch, weil dieser Begriff zentrale Elemente der angestrebten Theorie verdeutlicht: Es geht um eine Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft, die mit den Mitteln traditioneller Theorien nicht zu leisten ist. Das Adjektiv „kritisch“ verweist darüber hinaus auf einen zu erbringenden Beitrag für eine Neugestaltung der Gesellschaft.

II.1 Die Dialektik der Aufklärung

Das Ausbleiben des Übergangs der kapitalistisch – nationalstaatlich eingerichteten Welt in eine befreite Gesellschaft bzw. sogar das Gegenteil dessen, der Umschlag aufgeklärter in barbarische Verhältnisse inmitten einer der fortgeschrittensten Nationen der Welt,6 ist das zentrale Thema der Kritischen Theorie seit den 1940ern und hauptsächlicher Gegenstand des gemeinsamen Werkes Dialektik der Aufklärung.7
Unter dem Begriff „Aufklärung“ fassen die Autoren eine Bewegungsdynamik des menschlichen Denkens, die sich in geistige, gesellschaftliche und wissenschaftliche Entwicklungen einschreibt. Die gleichnamige Epoche im 18. Jahrhundert kann zwar als Höhepunkt oder Durchbruch bezeichnet werden, doch wollen Horkheimer und Adorno noch früher angesiedelten Vorformen nachgehen und zeigen, dass von Anfang an die Kehrseite des Prozesses, Irrationalismus und Gegenaufklärung, in der Aufklärung mitgeschwungen haben.
Die unheilvolle Eigendynamik liegt im Prinzip des Denkens der Aufklärung, sich in einem Prozess „rastloser Selbstzerstörung“ immer wieder selbst zu verwerfen und im Zuge einer instrumentell werdenden Suche nach immer rationaleren Erklärungen die Reflexionsfähigkeit des Denkens selbst zu verschütten, sich letztlich selbst zum Mythos zu transformieren:

„Immer wieder [verfällt] jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik […], nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe […] der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind. Das Prinzip der schicksalhaften Notwendigkeit, an der die Helden des Mythos zugrunde gehen, […] herrscht nicht bloß, zur Stringenz formaler Logik geläutert, in jedem rationalistischen System, sondern waltet selbst über der Folge der Systeme, die mit der Götterhierarchie beginnt und in permanenter Götzendämmerung den Zorn gegen mangelnde Rechtschaffenheit als den identischen Inhalt tradiert. […] so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.“8

Wenn nach der Abschaffung Gottes als letztverbindlicher Referenz die vergötzte Systemvernunft an dessen Stelle tritt, wird Vernunft instrumentell und zum Herrschaftsmittel statt zum befreienden Moment der Emanzipation.

„Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. […] Mit der Ausbreitung der bürgerlichen Warenwirtschaft wird der dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt, unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift. […] Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.“ 9

Die geistlos fortschreitende Rationalisierung verschlingt das Subjekt, das sie entfacht hat; es fällt dem Prozess anheim, der es befreien sollte. Schließlich durchschaut es nicht mehr, in welchem Maße es in dessen Logik verstrickt ist, sondern ist gezwungen, sich funktional einzufügen. Wenn der instrumentellen Vernunft alles zum Mittel geworden ist, ist das Subjekt quasi liquidiert.10
Die Eigendynamik dieses Prozesses erklären Horkheimer und Adorno wiederum dialektisch: Nicht nur werden die wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften beim Übergang von einer historischen Epoche zur nächsten entfaltet, sondern es setzt sich auch die von der „falschen“ Aufklärung nicht aufgehobene mythische Gewalt strukturell in die Moderne fort. Mit aller Macht fortgeschrittener Technologie hat diese Urgewalt in der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch deutsche Täter sich entladen. Diese neue Barbarei bedeutet die Entlarvung der europäischen Zivilisation als „rationalisierte Irrationalität“.11
Als Ausweg aus der Misere der Herrschaft der instrumentellen Vernunft deuten Horkheimer und Adorno die Möglichkeit einer Selbstreflexion der Aufklärung an, einer kritischen Wendung gegen sie selbst: „Die Instrumente der Herrschaft, die alle erfassen sollen, Sprache, Waffen, schließlich Maschinen, müssen sich von allen erfassen lassen. So setzt sich in der Herrschaft das Moment der Rationalität als ein von ihr auch verschiedenes durch.“12 Das vereinnahmende Moment des Denkens kann also durchbrochen werden; die Instrumente der Herrschaft können gegen sie selbst gewendet werden, denn „es ist der Knecht, dem der Herr nicht nach Belieben Einhalt tun kann. […] Jeder Fortschritt der Zivilisation hat mit der Herrschaft auch jene Perspektive auf deren Beschwichtigung erneuert.“13
Diese Perspektive bleibt jedoch vage. In der Dialektik der Aufklärung wird keine Klasse, keine soziale Gruppe als mögliche Trägerin eines solchen selbstkritischen Aufbruchs zur Emanzipation benannt. Die Kritische Theorie ist eine „Flaschenpost“, die weder ihren Adressaten, noch den Zeitpunkt ihrer Ankunft kennt.14

II.2 Naturbeherrschung und „zweite Natur“

„Die Geschichte des Jungen, der zum Mond aufblickte und fragte, ‚Papa, wofür soll der Mond Reklame machen’, ist eine Allegorie dessen, was aus dem Verhältnis von Mensch und Natur im Zeitalter der formalisierten Vernunft geworden ist. [Die Natur wurde] allen inneren Werts oder Sinnes entkleidet. [Wir haben] eine leere, zum bloßen Material degradierte Natur, bloßen Stoff, der zu beherrschen ist, ohne jeden anderen Zweck als eben den seiner Beherrschung.“15

Der Begriff der Naturbeherrschung taucht bei Horkheimer und Adorno immer wieder auf. Er beinhaltet eine Kritik am destruktiven, instrumentellen Zugriff des Menschen auf die ihn umgebende Umwelt (wozu im weiteren Sinne auch Tiere gezählt werden können):

„Als Gebieter über Natur gleichen sich der schaffende Gott und der ordnende Geist. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.“16

Dabei wollen Horkheimer und Adorno als materialistische Philosophen nicht die Notwendigkeit des Geistes als Bedingung der Emanzipation von Natur in Frage stellen: „An den Erklärungen […], daß die Vernunft den Menschen vom Tier unterscheide, ist die Wahrheit enthalten, daß mit der Vernunft der Mensch aus der Befangenheit der Natur erwacht.“ Entscheidend sei jedoch auch die Art und Weise, wie dieses Erwachen sich vollziehe: „Nicht freilich, […] um diese [die Natur] zu beherrschen, sondern um sie zu begreifen.“17
Zwischen dem Drang, sich die natürliche Umwelt zerstörerisch anzueignen und dem Zustand der menschlichen Gesellschaft sehen Horkheimer und Adorno eine unausweichliche Verbindung. Der herrschaftliche Zugriff des Menschen auf die Natur schlägt letztlich auf ihn selbst zurück:

„Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen. Herrschaft wird um der Herrschaft willen ‚verinnerlicht’.“18

Die vollständige „Entzauberung“ der Natur durch den Siegeszug der Rationalität macht sie beherrschbar und der Rationalität gleich. Dialektisch durchzieht diesen Prozess jedoch eine gleichzeitige „Verzauberung“ der Natur; eine Verdrängung und Leugnung der Naturbedingtheit des Menschen und eine zwanghafte Wiedererrichtung „gesellschaftlich fortgesetzter Natur“ in den Institutionen, die zur „zweiten Natur“ wird:

„Die Gesellschaft setzt die drohende Natur fort als den dauernden, organisierten Zwang, der, in den Individuen als konsequente Selbsterhaltung sich reproduzierend, auf die Natur zurückschlägt als gesellschaftliche Herrschaft über Natur.“19

Zwischen Vernunft und Natur besteht ein dialektisches Verhältnis, das es unmöglich macht, diese zu verteidigen, ohne über jene sprechen zu wollen. An dieser engen Verbindung, die als Identität und Nicht–Identität der Vernunft mit Natur gefasst wird, lässt Adorno keinen Zweifel:

„Dieser ephemer entragend, ist Vernunft mit Natur identisch und nichtidentisch, dialektisch ihrem eigenen Begriff nach. Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur.“20

Zur Überhöhung der Natur als ›besseres Prinzip‹ taugt die dialektische Spannung zwischen Vernunft und Natur indes nicht. Aus der Kritik an der Beherrschung der Natur, die als „zweite Natur“ den Menschen zu seinem Nachteil einholt, lässt sich nicht das stilisierte Bild einer vom Fortschritt zerbrochenen, an sich für die Ewigkeit angelegten Idylle ableiten:

„Die Lehren, die die Natur oder den Primitivismus auf Kosten des Geistes erhöhen, begünstigen die Versöhnung mit der Natur nicht; im Gegenteil, sie drücken emphatisch Kälte und Blindheit gegenüber der Natur aus. Immer wenn der Mensch vorsätzlich Natur zu seinem Prinzip macht, regrediert er auf primitive Triebe. […] Immer wenn Natur zum obersten Prinzip erhoben wird und zur Waffe […] gegen das Denken, gegen die Zivilisation, wird das Denken zu einer Art Heuchelei […]“21

Auch in der Behandlung des Themas Naturbeherrschung ist die Möglichkeit einer Selbstreflexion und damit einhergehenden Versöhnung angedeutet, die sowohl die Unterdrückung der äußeren als auch der inneren Natur aufgreifen müsste – eine Befreiung des Menschen als, nicht von Natur, der sich seiner Distanz wie seiner Nähe zu Natur bewusst sein müsste:

„Die instrumentelle subjektive Vernunft preist entweder die Natur als pure Vitalität oder schätzt sie gering als brutale Gewalt, anstatt sie als einen Text zu behandeln, der von der Philosophie zu interpretieren ist und der, richtig gelesen, eine Geschichte unendlichen Leidens entfalten wird. Ohne den Fehler zu begehen, Natur und Vernunft gleichzusetzen, muß die Menschheit versuchen, beide zu versöhnen.“22

„Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort.“23 In der Versöhnung liegt die Möglichkeit, eine andere Geschichte zu schreiben, nicht jedoch in den konventionellen Versuchen, Vernunft, die noch vor ihrer Selbstreflexion steht, als grundlegendes Prinzip durchzusetzen:

„Wenn man sich so etwas wie die Institutionalisierung der Vernunft als des obersten Prinzips der Menschheit ausmalt, dann hätte man wahrscheinlich doch viel eher sich vorzustellen, daß in ihr dieses herrschaftliche Prinzip: so muß es sein, so muß es zugerichtet werden, […] aufhört und sich löst, als daß es sich ad calendas graecas perpetuiert und dann am Schluß im Namen des Moralischen die Gesellschaft selbst als eine unermeßliche Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Natur sich etabliert. […].“24

III. Der Blick der Kritischen Theorie auf das Mensch-Tier-Verhältnis

„Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, […] durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.“25

Die kategorische Trennung des Menschen von den Tieren zeitigt beidseitig Konsequenzen. Das unmittelbare Leid erfahren selbstverständlich die Tiere, doch der auf Gewalt gebaute Vorteil des Menschen schlägt potentiell als instrumentelle Vernunft auf ihn zurück, denn

„[h]eillos ist der Geist und alles Gute in seinem Ursprung und Dasein in dieses Grauen verstrickt. Das Serum, das der Arzt dem kranken Kind reicht, verdankt sich der Attacke auf die wehrlose Kreatur.“26

Die Darstellung des Mensch – Tier – Verhältnisses ist eingelassen in eine Gesellschaftstheorie, welche die Kritik am instrumentellen Charakter moderner Rationalität und blinder Naturbeherrschung in den Mittelpunkt stellt. Eine besondere Qualität erreicht diese Form der scheinbaren Emanzipation von Natur in der Ausbeutung von Tieren, wie Adorno in Anlehnung an Arthur Schopenhauer ausführt:

„[D]er Schopenhauer hatte wahrscheinlich den Verdacht, daß die Etablierung der totalen Vernunft als des obersten objektiven Prinzips der Menschheit eben damit jene blinde Herrschaft über die Natur fortsetzen könnte, die in der Tradition der Ausbeutung und der Quälerei an Tieren ihren allersinnfälligsten und faßlichsten Ausdruck hat."27

Wie im oben zitierten Aphorismus angedeutet, entwickeln Horkheimer und Adorno ihre Position auch entlang des Widerspruchs gegenüber den philosophisch wirkmächtigen Entwürfen des Mensch – Tier – Verhältnisses. Zu nennen ist hier v.a. Immanuel Kant (1724 – 1804), dessen Überlegungen ausdrücklich kritisiert werden.

III.1 Stellung gegen Kants Ratiozentrismus

Kant formuliert in seiner Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte den Unterschied zwischen Mensch und Tier als den zwischen Zweck und Mittel. Degradiert zum Mittel des Menschen, ist das Tier dessen Verfügbarkeitsanspruch vollkommen ausgesetzt:

„Das erstemal, daß er zum Schafe sagte: `den Pelz, den du trägst, hat dir die Natur nicht für dich, sondern für mich gegeben`, ihm ihn abzog und sich selbst anlegte: ward er seines Vorrechtes inne, welches er vermöge seiner Natur über alle Thiere hatte, die er nun nicht mehr als Mitgenossen an der Schöpfung, sondern als seinen Willen überlassene Mittel und Werkzeuge zur Erreichung seiner beliebigen Absichten ansah.“28

Entscheidender Faktor für die Erhebung des Menschen über Tiere sei deren Mangel an Vernunft. Als Kriterium für die Vergabe des Status eines Moralsubjekts lässt Kant nur die Vernunft bzw. die Vernunftbegabtheit gelten, was seine Philosophie als ratiozentrisch qualifiziert.
Tiere erscheinen in diesem philosophischen Modell als würdelose „Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann“.29 Dieser herrschaftliche, instrumentelle Zugriff, der „den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert“30, trifft auf entschiedenen Widerspruch. Vor allem die Aufforderung, über Tiere frei zu verfügen, sie mitleidslos für die eigenen Zwecke einzuspannen, verbunden mit einer generellen Absage Kants an eine von Mitleid motivierte Ethik31, wird im Kontext der Kritischen Theorie zur Vorreiterin der kalten, instrumentellen Vernunft, welche die Menschen in letzter Konsequenz wieder einholt. Nicht das Mitleid selbst ist das Problem, sondern die Unzulänglichkeit, die ihm innewohnt, und die Grausamkeit, von der es erst provoziert wird:

„[Mitleid] bestätigt die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert. […] Wohl vertritt der Mitleidige als Einziger den Anspruch des Allgemeinen, nämlich den zu leben, gegen das Allgemeine, gegen Natur und Gesellschaft, die ihn verweigern. […] Nicht die Weichheit sondern das Beschränkende am Mitleid macht es fragwürdig, es ist immer zu wenig.“32

Der Mangel an Mitleid, die Orientierung an Kriterien der reinen Vernunft, wird als ein Hort der Grausamkeit entlarvt; er verweist auf die Möglichkeit des Umschlagens von Humanität in Inhumanität, die auch in Kants Moralphilosophie angelegt ist.33 Ohne eine kritische Reflexion ihrer selbst wird die Vernunft zur instrumentellen, die mit der Grausamkeit wesensverwandt ist. „Dem Menschen gehört die Vernunft, die unbarmherzig abläuft; das Tier, aus dem er den blutigen Schluß zieht, hat nur das unvernünftige Entsetzen, den Trieb zur Flucht, die ihm abgeschnitten ist.“34
Horkheimer und Adorno sind, eingedenk ihrer Analyse des dialektischen Charakters von Aufklärung und Rationalität, geneigt, Skepsis gegenüber einer allzu emphatischen Beschreibung der Vernunft, der die Empathie zum Anhängsel wird, zu artikulieren. „Die Sorge ums vernunftlose Tier […] ist dem Vernünftigen müßig.“35 Stattdessen bieten sie, Kant widersprechend, angesichts des Zustandes der Gesellschaft, der auf Emanzipation und Befreiung kaum hoffen lässt, einen Fluchtpunkt für die Würde, an dem Mensch und Tier sich wieder treffen:

„Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.“36

III.2 Kritische Perspektive auf die Herrschaft

Das Mensch – Tier – Verhältnis wird in der Kritischen Theorie als eines der Herrschaft des Menschen über Tiere gezeichnet. Rückschlüsse lässt dies nicht auf die Natur von Tieren, jedoch auf typische Eigenschaften der Sozialcharaktere in der kapitalistischen Gesellschaft zu. Im Verhältnis zu Tieren zeigen sich ungeschmückt die soziale Kälte und die Rücksichtslosigkeit, die Bedingungen des Bestehens innerhalb der Konkurrenzgesellschaft sind, unter Menschen jedoch – in den liberalen Phasen des Kapitalismus – durch zivilisatorische Standards abgemildert werden. „In der Blindheit gegen das Dasein der Tiere hat sich in der bisherigen europäischen Gesellschaft die gehemmte Entwicklung der Intelligenz und Instinkte gezeigt. Ihr Los in unserer Zivilisation spiegelt die ganze Kälte und Borniertheit des vorherrschenden menschlichen Typus wider.“37
Die Abwesenheit einer moralischen Instanz, die das Verhalten der Menschen gegenüber Tieren wirksam zu deren Vorteil regulieren könnte, zeitigt dramatische Folgen. Tieren wird keine Vernunft zuerkannt, also gibt es auch keine ethische Verpflichtung ihnen gegenüber. Im Verhalten gegen sie tritt der aggressive Zug instrumenteller Vernunft zutage:

„Der Mangel an Vernunft hat keine Worte. Beredt ist ihr Besitz, der die offenbare Geschichte durchherrscht. Die ganze Erde legt für den Ruhm des Menschen Zeugnis ab. In Krieg und Frieden, Arena und Schlachthaus, vom langsamen Tod des Elefanten, den primitive Menschenhorden auf Grund der ersten Planung überwältigten, bis zur lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute, haben die unvernünftigen Geschöpfe stets Vernunft erfahren.“38

Die Geschichte der Unterdrückung und Instrumentalisierung von Tieren lässt sich bis tief in die Vergangenheit zurückverfolgen und hat im Laufe der Zeit auf viele verschiedene Legitimationen aufgebaut. Von der religiös motivierten Ignoranz gegenüber dem Leid der seelenlosen Kreatur bis zum pragmatischen Zeitgeist der Moderne, dem das unproduktive Tier nur noch ein auszuräumendes Hindernis ist, hat ein grausames Verhältnis des Menschen zu Tieren Epochen durchherrscht:

„Das Schicksal der Tiere in unserer Welt wird durch eine Notiz symbolisiert, die vor einigen Jahren durch die Zeitungen ging. Sie berichtete, daß Landungen von Flugzeugen in Afrika oft durch Herden von Elefanten und anderen Tieren behindert würden. Die Tiere werden hier einfach als Verkehrshindernisse betrachtet. Diese Vorstellung vom Menschen als dem Herrn läßt sich bis auf die ersten Kapitel der Genesis zurückverfolgen. Die wenigen Gebote zugunsten der Tiere[…] sind durch die hervorragendsten religiösen Denker […] so interpretiert worden, daß sie nur die moralische Erziehung des Menschen betreffen und keineswegs irgendeine Verpflichtung des Menschen gegenüber anderen Kreaturen. Nur die Seele des Menschen kann gerettet werden; Tiere haben nur das Recht zu leiden.“39

Die Methode der Kritischen Theorie, auf psychoanalytische Argumente zurückzugreifen, wird auch angewandt, um das Defizit an Empathie gegenüber Tieren, das in der „lückenlosen Ausbeutung der Tierwelt heute“ seinen Höhepunkt erreicht, zu erklären. Die eingangs erwähnte Konstellation der Moderne, in welcher die gesellschaftlichen Verhältnisse als „zweite Natur“ den Menschen trotz immenser produktiver Potentiale weitgehend ohnmächtig zurücklassen, provoziert dessen Aggression gegen alles, was der zum obersten Prinzip erhobenen Rationalität widerspricht, da es ihn an seine eigene Ohnmacht erinnert. Die eigene Unterdrückung muss am Anderen wiederholt werden.

„Was zum Anlaß solcher Wiederholung wird, wie unglücklich selbst es auch sein mag, […], Fremdes, das ans verheißene Land […] erinnert, das als widerwärtig verfemte Tier, das an Promiskuität gemahnt, zieht die Zerstörungslust der Zivilisierten auf sich, die den schmerzlichen Prozeß der Zivilisation nie ganz vollziehen konnten.“40

Was die Aggression provoziert, sind das eigene Scheitern am Zivilisationsprozess und das Erkennen des Eigenen im Anderen, das es abzuwehren gilt. „[Die Kultur] perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundsscheiße.“41
Als Gesellschaftstheorie fasst die Kritische Theorie auch das instrumentelle Mensch – Tier – Verhältnis als soziale Erscheinung. Tiere werden nicht als außerhalb der Gesellschaft stehend begriffen, sondern in der Dimension dargestellt, die für die Kritische Theorie einzig von Interesse ist: Innerhalb der Beziehung, die zur menschlichen Gesellschaft besteht. In seinem Aphorismus „Der Wolkenkratzer“ beschreibt Horkheimer den Aufbau der hierarchischen Gesellschaft und nimmt Tiere dezidiert in diese hierarchische Ordnung mit auf – als Bewohner des Kellers der Gesellschaft, noch unterhalb der Armen und Besitzlosen:

„Unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut; die Verzweiflung der Tiere. […] Dieses Haus, dessen Keller ein Schlachthof und dessen Dach eine Kathedrale ist, gewährt in der Tat aus den Fenstern der oberen Stockwerke eine schöne Aussicht auf den gestirnten Himmel.“42

Diese Notiz Horkheimers wirft einen unzeitgemäßen Blick auf die Situation von Tieren in den Gesellschaften der Moderne. Auch weitere Passagen aus Werken der Kritischen Theorie lassen eine Wachsamkeit für die Gefährdung von Tieren und eine Kritik an der Grausamkeit der herrschenden Praxis erkennen, die verwoben ist mit den sozialen Verhältnissen, innerhalb derer sie stattfindet.

„Unter den kleinen Nachrichten auf der zweiten und dritten Seite der Zeitungen, deren erste mit den grauenvollen Ruhmestaten der Menschen ausgefüllt ist, stehen zuweilen die Zirkusbrände und Vergiftungen der großen Tiere zu lesen. Es wird an die Tiere erinnert, wenn ihre letzten Exemplare […] in unendlichen Qualen zugrunde gehen, als Kapitalverlust für den Besitzer, der die Treuen im Zeitalter des Betonbaus nicht feuersicher zu beschützen vermochte.“43

Wo sie kapitalträchtig sind, wird ihr Tod als Verlust des Besitzers bedauert. Wo sie der weiteren Expansion im Wege stehen, bleibt ihnen nicht einmal diese vermittelte Regung:

„Die große Giraffe und der weise Elefant sind `oddities`, an denen sich schon kaum mehr ein gewitzter Schuljunge verlustiert. Sie bilden in Afrika, der letzten Erde, die ihre armen Herden vor der Zivilisation vergeblich schützen wollte, ein Verkehrshindernis für die Landung der Bomber im neuesten Krieg. Sie werden ganz abgeschafft.“44

An anderer Stelle wird die gesellschaftliche Verachtung von Tieren dargestellt, indem aufgezeigt wird, daß bei der Etablierung von Feindbildern auf jene weithin geteilte ablehnende Grundhaltung rekurriert wird, die Tiere mit negativen Attributen assoziiert. Das Herabsetzen von Menschen zu Tieren, das eine Geringschätzung von Tieren zur Bedingung hat, dient dem Abbau von Achtung und Empathie bestimmten Menschen gegenüber auf das Niveau, das bei Tieren stets nur gegeben ist.

„Die stets wieder begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japaner glichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeit wird entschieden in dem Augenblick, in dem das Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Menschen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick von sich schiebt - ´es ist ja bloß ein Tier` - wiederholt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten am Menschen, in denen die Täter das `Nur ein Tier` immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie es schon am Tier nie ganz glauben konnten.“45

Die Möglichkeit zur willkürlichen Behandlung von Tieren, deren Menschen sich bewusst sind, ist auch der Grund für die paradoxe Tierliebe der Faschisten, derer diese in ihrer Propaganda sich bedienten. Sie suchten die Nähe von Tieren, um, mittels einer besonders perfiden Instrumentalisierung, ihre eigene Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, zu demonstrieren. „Das lässige Streicheln über Kinderhaar und Tierfell heißt: die Hand hier kann vernichten. Sie tätschelt zärtlich das eine Opfer, bevor sie das andere niederschlägt, […]. Dem blutigen Zweck der Herrschaft ist die Kreatur nur Material.“46
Gleichzeitig offenbart diese Technik die Blindheit der Propagandisten vor der Natur oder die „falsche Versöhnung“ mit ihr. Das Zurschaustellen großer Tiere, deren Ausstrahlung auf den Diktator oder Führer zurückwirken soll, zeigt keine Tierliebe, sondern Menschenverachtung.

„Wenn Industriekönige und Faschistenführer Tiere um sich haben, sind es keine Pinscher sondern dänische Doggen und Löwenjunge. Sie sollen die Macht durch den Schrecken würzen, den sie einflößen. So blind steht der Koloß des faschistischen Schlächters vor der Natur, daß er ans Tier nur denkt, um Menschen durch es zu erniedrigen.“47

Die Kritische Theorie bietet kaum greifbare Angebote einer Aussicht auf andere Verhältnisse. Zu beschädigt und belastet sind alle diese Vorstellungen, um emanzipatorischen Gehalt haben zu können. Die Instrumentalisierung von Tieren für faschistische Propaganda, die „falsche Versöhnung“ mit Natur im Nationalsozialismus, beschädigt auch Perspektiven auf ein anderes Mensch – Tier – Verhältnis.
Im letzten Abschnitt soll dennoch auf diese Thematik eingegangen werden, um möglichen vagen Andeutungen in den Werken Horkheimers und Adornos nachzuspüren.

III.3 Perspektive der Befreiung

Die Annäherung an utopische Momente in der Kritischen Theorie fällt schwer, da die Autoren sich positiver Bezugnahmen verweigern; sich selbst die intellektuelle Selbstdisziplin eines „Bilderverbots“ der Utopie auferlegt haben, um sich dem Paradigma einer optimistischen Geschichtsphilosophie, die auch nach dem Zivilisationsbruch von Auschwitz Emanzipation in einer Maximierung der Naturbeherrschung sucht, zu entziehen. Die Vorstellung eines Besseren kann mit den Mitteln des Bestehenden nicht über das Bestehende hinausweisen.

„Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. […] In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt.“48

Einer Behandlung der Thematik sind also enge Grenzen gesetzt. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, einzelne Figuren, die auf utopische Elemente schließen lassen, zu entdecken – nicht als fertige Zeichnungen anderer Verhältnisse, sondern als schemenhafte, dem identifizierenden Blick sich entziehende Andeutungen, die eine Kritik des Bestehenden als Ausgangspunkt einer Vorstellung des Anderen in sich bergen.
Innerhalb dieses Rahmens, der von der Negation bestehender Verhältnisse gesetzt wird, wird das vage Bild eines „ganz Anderen“ entworfen; „Das unfunktionelle Selbstsein der Dinge, ihre Befreiung vom Identitätszwang, den der herrschaftliche Geist ausübt, wäre die Utopie. Sie setzt die Veränderung des Ganzen voraus.49
Menschen und Tiere bewohnen die gleiche Sphäre; eine Selbsttäuschung des Menschen, die seine Naturbedingtheit verleugnet, ist Teil des naturbeherrschenden Denkens. Der gleiche Gedanke löst auch Tiere von der instrumentell – mechanischen Zuschreibung, als reine Natur auch nur reines Mittel eines kategorisch verschiedenen Menschen zu sein.
Die Form der Beschreibung von Tieren selbst ist eher traditionell:

„Die Welt des Tieres ist begriffslos. Es ist kein Wort da, um im Fluß des Erscheinenden das Identische festzuhalten, im Wechsel der Exemplare dieselbe Gattung, in den veränderten Situationen dasselbe Ding. […] Das Tier hört auf den Namen und hat kein Selbst, es ist in sich eingeschlossen und doch preisgegeben, immer kommt ein neuer Zwang, keine Idee reicht über ihn hinaus.“50

Sie fügt sich begrifflich insofern in die Sprache der Kritischen Theorie ein, als dass Tiere rein negativ gefasst werden; was sie nicht sind oder haben wird beschrieben. Sie werden dadurch dem identifizierenden Denken entzogen, das durch die Vergabe charakterlicher Attribute an Tiere versucht, sie zu kategorisieren.
Tiere werden beschrieben um aufzuzeigen, inwiefern sie ihrer vom Menschen beeinflussten Umwelt ausgeliefert sind. Eine aktive Rolle kommt ihnen nicht zu; sie bieten allenfalls, wie z.B. in der kurzen Notiz Tierpsychologie, die Möglichkeit, durch ihre Befangenheit in ihrer Umgebung eine Kontrastfolie für die menschliche Gesellschaft, die Einfluss auf ihre Verfasstheit nehmen könnte, zu sein:

„Ein großer Hund steht am Highway. Er gerät unter ein Auto, wenn er, vertrauend, weitergeht. Sein friedlicher Ausdruck zeugt davon, daß er sonst besser behütet ist, ein Haustier, dem man nichts Böses zufügt. Aber haben die Söhne der oberen Bourgeoisie, denen man nichts Böses zufügt, einen friedlichen Ausdruck im Gesicht? Sie waren nicht schlechter behütet, als sonst der Hund, der jetzt überfahren wird.“51

Obwohl Horkheimer und Adorno auf eine spekulative Beschreibung des Wesens von Tieren verzichten, gehen sie von einer Ähnlichkeit zwischen Menschen und Tieren in elementaren Belangen aus. „Die größeren Gaben des Menschen, vor allem die Vernunft, heben die Gemeinschaft, die er mit den Tieren fühlt, durchaus nicht auf. Die Züge des Menschen haben zwar eine besondere Prägung, aber die Verwandtschaft seines Glücks und Elends mit dem Leben der Tiere ist offenbar.“52 Eine weitreichende Gemeinsamkeit besteht in der Frage der Leidensfähigkeit: „Im Schmerz wird alles eingeebnet, jeder wird jedem gleich, Mensch und Mensch, Mensch und Tier.“53
Die Kritische Theorie bleibt in ihrem Zugang zum Mensch – Tier – Verhältnis anthropozentrisch. Dieser Anthropozentrismus ist jedoch nicht, wie der Kants, ein Verhältnis, das unabänderliche Wertigkeiten und kategorische Trennwände zöge. Im Mittelpunkt der Theorie stehen Menschen; es findet kein Zugriff auf das Wesen von Tieren statt, sondern ihre Bestimmung beschränkt sich darauf, sie als Nicht – Identisches zu beschreiben. Als mögliche Protagonisten einer Veränderung des Mensch – Tier – Verhältnisses kommen, dank ihrer Vernunft, nur Menschen in Frage; Horkheimer und Adorno verbinden diesen Anthropozentrismus jedoch an keiner Stelle mit der Aufforderung, Tiere für menschliche Zwecke einzuspannen. Eingedenk des Ausbleibens einer objektifizierenden, kategorisierenden Vereinnahmung von Tieren und der festgestellten Ähnlichkeit in fundamentalen Fragen zwischen Menschen und Tieren kann man von einem „utopisch zurückgebundenen Anthropozentrismus“54 sprechen, der die Chance auf andere Mensch – Tier – Beziehungen offen lässt.

III.4 Tiere als Träger der Utopie

Es werden zwar Vorstellungen anderer Verhältnisse provoziert, doch die entstehenden Bilder werden nicht ausgemalt. Durch die negative Bestimmung dessen, was an den bestehenden Verhältnissen falsch ist, scheint als blasses Gegenbild eine utopische Ahnung auf. Tiere, die als Nicht – Identisches gefasst werden, können potentielle Träger dieser utopischen Vorstellungen sein.
In dem Aphorismus Sur l´eau deutet Adorno an, wie „Glück ohne Macht, [das] überhaupt erst Glück wäre“55, aussehen könnte. Er bedient nicht die Vorstellung eines omnipotenten, unangefochtenen Zukunftsmenschen, der alle Reste des unproduktiven Müßiggangs beseitigt hat, sondern beschreibt das dem Paradigma von Warenproduktion und Naturbeherrschung Entzogene. Nichts tun wie ein Tier – „Rien faire comme une bête, [...], sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“56. In diesen Vorstellungen bewahrt Adorno den utopischen Gehalt der Kritischen Theorie auf. Im Bezug auf das besondere Verhältnis von Kindern zu Tieren wird der Gedanke an anderer Stelle wiederholt:

„Vollends beruht das Verhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daß die Utopie in jene sich vermummt, denen Marx es nicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehrwert liefern. Indem die Tiere ohne den Menschen irgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sie als Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor, das schlechterdings nicht Vertauschbare.“57

In Anbetracht der Fülle und des Inhalts des gebotenen Materials scheint die Annahme zulässig: Das Feld der Mensch – Tier – Beziehungen ist eines, in dem eine „Versöhnung von Geist und Natur“58, eine Abkehr von der sich steigernden Naturbeherrschung, angesiedelt wäre.

IV. Fazit

Die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos bietet reichlich Anhaltspunkte für eine Beschäftigung mit dem Mensch – Tier – Verhältnis. Die Verachtung und gedankenlose Ausbeutung von Tieren ist ein stetig wiederkehrendes Motiv v.a. in dem zentralen Werk Dialektik der Aufklärung, aber auch in den Minima Moralia, in der Negativen Dialektik und in zahlreichen Aufsätzen.
Horkheimer und Adorno rekurrieren zwar auf konventionelle Beschreibungen von Tieren. Dies jedoch, um sie dem funktionalisierenden Blick instrumenteller Rationalität zu entziehen, so dass aus der Abwesenheit von Vernunft keine Abwertung von Tieren folgt. Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Menschen und Tieren werden festgestellt, die keine Gleichsetzung bedeuten, aber auch keine kategorische Trennung. „In der Tierseele sind die einzelnen Gefühle und Bedürftigkeiten des Menschen, ja die Elemente des Geistes angelegt ohne den Halt, den nur die organisierende Vernunft verleiht.“59
Die festgehaltenen Gemeinsamkeiten, verbunden mit der Forderung nach „Abschaffung des Leidens oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist“60 als einzig vertretbare Form solidarischer Praxis erlauben den Schluss, dass es Horkheimer und Adorno bei der Erwähnung von Tieren nicht nur um die metaphorische Wirkung bestellt ist. Vielmehr scheint es legitim, davon auszugehen, dass auf eine Kritik am Mensch – Tier – Verhältnis gezielt wird, die, eingedenk der auf den Menschen zurückfallenden Naturbeherrschung und eingedenk der gleichen Leidensfähigkeit von Menschen und Tieren, das Bestehende im Interesse aller Beteiligten ablehnt.
Diese Vermutung scheint sich auch im Hinblick auf das utopische Potential, das in der Mimesis ans Tier, da „Vernunft allein nicht wenden kann“,61 aufbewahrt ist, zu bestätigen.
Dieses Bild ist v.a. angesichts der generellen Schwierigkeit, den utopischen Gehalt der Kritischen Theorie zu bestimmen, erwähnenswert. Wie bereits dargestellt, ist die Kritische Theorie wegen der sozialen und historischen Entwicklung, die sie zugrunde legt, in dieser Hinsicht von reservierter Vorsicht geprägt: Eine positive Utopie kann nicht entworfen werden, die schonungslose Kritik der bestehenden Verhältnisse verhindert jedoch das Absterben des grundsätzlichen Drangs zum „Besseren“, denn „es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält.“62
Folgerichtig kann auch in Bezug auf die Kritik an der Naturbeherrschung von keinem positiven Verhältnis zur Natur im Sinne einer irrational verklärten Idylle ausgegangen werden; eine Vorstellung, die auch die Kritik am Mensch – Tier – Verhältnis in ein anderes Licht rücken würde. Die Kritik an Naturbeherrschung und instrumenteller Rationalität als einen Aufruf zu interpretieren, anstelle der Vernunft und des Denkens die „Natürlichkeit“ und Irrationalität hochzuhalten, geht angesichts des Gesamtkontextes völlig fehl:

„[…] wir sind zum Guten oder Schlechten die Erben der Aufklärung und des technischen Fortschritts. Sich ihnen zu widersetzen durch Regression […] mildert die Krise nicht, die sie hervorgebracht haben. […] Der einzige Weg, der Natur beizustehen, liegt darin, ihr scheinbares Gegenteil zu entfesseln, das unabhängige Denken.“63


[Fußnoten auf Anfrage beim Autor erhältlich]

Literatur:

Tiedemann, Rolf (Hrsg.): Adorno, Theodor W.: Beethoven. Philosophie der Musik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993.

Adorno, Theodor W. 1966: Negative Dialektik. Gesammelte Schriften, Band 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. S. 15 – 408.

Adorno, Theodor W. 1966: Jargon der Eigentlichkeit. Gesammelte Schriften, Band 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. S. 413 – 526.

Adorno, Theodor W. 1963: Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1996.

Adorno, Theodor W. 1951: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Gesammelte Schriften, Band 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998.

Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. 1944: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften, Band 3. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998

Horkheimer, Max: Notizen 1950 – 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1974. S. 287 – 288.

Horkheimer, Max 1947: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1967.

Horkheimer, Max 1942: Vernunft und Selbsterhaltung. Gesammelte Schriften, Band 5. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1987. S. 320 – 350.

Horkheimer, Max 1936: Egoismus und Freiheitsbewegung. Zur Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters. In: Horkheimer, Max: Traditionelle und Kritische Theorie. Vier Aufsätze. Frankfurt am Main: Fischer, 1968.

Horkheimer, Max 1933: Materialismus und Moral. Gesammelte Schriften, Band 3: 1931 – 1936. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1988. S. 111 – 149

Kant, Immanuel 1798: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht abgefaßt. Immanuel Kant Werke in 6 Bänden, Band 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. S. 395 – 622.

Kant, Immanuel 1786: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. Immanuel Kant Werke in 6 Bänden, Band 6. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983. S. 85 – 102.

verwendete Sekundärliteratur:

Görg, Christoph: Nicht – Identität und Kritik – Zum Problem der Gestaltung der Naturverhältnisse. In: Böhme, Gernot und Manzei, Alexandra (Hrsg.): Kritische Theorie der Technik und Natur. München: Wilhelm Fink, 2003. S. 113 – 133.

Hoffmann, Arnd: „Rien faire comme une bête” . Überlegungen zu Adornos Tieren. In: Hoffmann, Arnd; Bedorf, Thomas; Skrandies, Timo; Maaßen, Jens (Hrsg.): Marginalien zu Adorno. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2003. S. 107 – 141.

Kim, Yang - Hyun: Kantischer Anthropozentrismus und ökologische Ethik. Münster: LIT, 1998.

Schweppenhäuser, Gerhard: Adorno zur Einführung. Hamburg: Junius, 2000.

Türcke, Christoph und Bolte, Gerhard: Einführung in die Kritische Theorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994.

Wiggershaus, Rolf: Max Horkheimer zur Einführung. Hamburg: Junius, 1998.

sowie der hervorragende Aufsatz von Carsten Haker in dem Reader „Leiden beredt werden zu lassen ist Bedingung aller Wahrheit“, herausgegeben von Tierrechts–Aktion–Nord.

 


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